Rätsel um Sterbehilfe-Motive:Mitten aus dem Leben

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Sie war nicht unheilbar krank, sie war engagiert in ihrer Stadt, sie mischte sich in die Politik ein - und doch: Bettina S. ließ sich beim Sterben helfen. Warum wollte die Würzburger Rentnerin nicht mehr leben?

Olaf Przybilla

Der letzte Leserbrief, den die Main Post von Bettina S. veröffentlichte, erschien im April, keine drei Monate vor ihrem Tod. Es ging darin um die Olympischen Spiele in Peking. "Welche Wirkung auf die Weltöffentlichkeit hätte es, wenn bei der Eröffnungszeremonie alle einmarschierenden Landesgruppen statt einer eigenen Staatsflagge die Flagge Tibets tragen würden?" Das fragte Bettina S., 79 Jahre alt, Rentnerin aus Würzburg.

Rentnerin Bettina S.: Die Angst, sich permanent betreuen zu lassen. (Foto: Foto: dpa)

Über die Weltpolitik hielt sich die ehemalige Röntgenassistentin stets auf dem Laufenden, sagen ihre Nachbarn. Der Fernseher lief den ganzen Tag, und auch aus dem Internet bezog die Rentnerin ihre Informationen. Dort dürfte sie wohl auch auf den ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch gestoßen sein - jenen Mann also, der sie in den Tod leitete und der am Montag in einer Pressekonferenz ein Video mit Bildern von den letzten Stunden der Bettina S. vorführte, zwei Tage nach der Selbsttötung der Frau aus Würzburg.

Wer sich nun mit den Bewohnern des Mehrfamilienhauses in der Nähe des Würzburger Hauptbahnhofs unterhält, der hört Sätze, die besagen, dass noch kurz vor ihrem Tod nichts auf eine Selbsttötung hinzudeuten schien. Bettina S. war es gewohnt, alleine zu leben.

Die Frau, die sich in mehreren Fremdsprachen unterhalten konnte, war niemals verheiratet, Kinder hatte sie nicht und der Kontakt zu ihrer Halbschwester - die nicht in Würzburg lebt - soll bestenfalls lose gewesen sein.

Dass die Rentnerin unter dem Alleinsein zu leiden hatte, davon muss jahrelang nichts zu spüren gewesen sein. Im Gegenteil: Solange sie konnte, begleitete die Würzburgerin junge Theaterleute bei deren Reisen quer durch Europa. Nur eine Sorge soll sie ihren Nachbarn mehrfach anvertraut haben. Wenn sie einmal ausziehen müsste aus dem hellgelben Stadthaus mit den fünf Stockwerken, wohin dann mit ihrer Bibliothek? Zwei Räume in der 87 Quadratmeter großen Wohnung am vierspurigen Würzburger Röntgenring waren mit Büchern gefüllt.

Aktiv in der Bürgerinitiative

"Es ist beklemmend", sagt Raimund Binder, wenn er auf Bettina S. zu sprechen kommt. Binder ist Vorsitzender einer Bürgerinitiative, die im vergangenen Jahr erfolgreich die "Würzburger Arcaden", ein Einkaufszentrum direkt neben dem Hauptbahnhof, verhindert hat. Eines der aktivsten Mitglieder dieser Initiative war Frau S., die 79-Jährige.

Wenn die Kritiker des Bauprojekts in der Fußgängerzone einen Informationsstand aufbauten, dann ließ sich Bettina S. mit einem Taxi dort hinfahren und redete gegen das Einkaufszentrum. In ihren Briefen an die regionalen Zeitungen nannte sie den geplanten Bau eine seelenlose Glas-Beton-Scheußlichkeit. "Seid wachsam, Würzburger", schreibt sie wenige Monate vor ihrem Freitod, "eine Großfirma will und braucht Profit - auf wessen Kosten ist ihr gleichgültig."

Als besonders beklemmend empfindet es Binder, der Vorsitzende der Initiative, dass es gerade diese engagierte Frau war, die sich nun von Roger Kusch in den Tod hat leiten lassen. Wenn Binder ein gutes Beispiel für einen in Würde alternden Menschen nennen sollte, er würde dabei an seine ehemalige Mitstreiterin denken.

Eine Frau, die sich nicht zurückzog. Die alle zur Verfügung stehenden Medien nutzte, um sich irgendwie auszutauschen. Und die bei Bedarf Zivildienstleistende anleitete, wenn diese nicht so gut mit den neuen Medien umgehen konnten wie sie, die Rentnerin.

Unbedingter Wille zum Engagement

Warum hat sich diese Frau das Leben genommen? In dem Video, das Kusch vorgeführt hat, lacht Bettina S. sehr oft. Sie erklärt: "Ich kann nicht sagen, dass ich leide." Zwar behindere sie ein Hüftschaden, und gelegentlich habe sie sich kaum aufraffen können, sich etwas zu essen zu machen, selbst wenn sie großen Hunger gehabt habe. Als hauptsächlichen Grund für den Freitod aber führt Frau S. die Furcht vor dem Pflegeheim an. Der Gedanke, sich dort permanent betreuen lassen zu müssen, mache ihr Angst.

Und diese Angst ist ihr wohl immer näher gekommen. Vielleicht, sagt eine Nachbarin, war es ja gerade ihr unbedingter Wille zum Engagement, der Bettina S. veranlasste, sich das Leben zu nehmen. Weil sie wusste, dass sie nicht für immer Kraft besitzen wird. Jüngst kam Bettina S. vorzeitig aus Bad Füssing zurück. Die Rundumbetreuung in der Kurstadt, ließ sie ihre Nachbarn wissen, habe sie kaum ertragen können. Und eine Heilung ihrer Hüfte hat sie sich von dem Aufenthalt auch nicht mehr erwartet.

Zumindest einer ihrer Nachbarn aus dem Würzburger Wohnhaus wusste, dass Frau S. mit Roger Kusch und dessen Verein für Sterbehilfe in Verbindung stand. Ihm, dem Würzburger Nachbarn, hatte sie einmal erklärt, dass sie irgendwann selbst bestimmen werde, wann es zu Ende gehen soll. Der Mann sagt, sie habe das wie im Scherz gesagt. Nur Roger Kusch hat wohl erkannt, dass er in diesem Fall Ernst machen konnte.

© SZ vom 02.07.2008/grc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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