Prozess um Erdbeben in L'Aquila:Experten müssen wegen falscher Prognose ins Gefängnis

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"Keine Gefahr", befanden italienische Experten 2009 über ein mögliches Erdbeben in der Region um L'Aquila. Wenige Tage später lag die Stadt in Trümmern, mehr als 300 Menschen starben. Wegen fahrlässiger Tötung hat ein italienisches Gericht nun mehrjährige Haftstrafen verhängt.

Im Strafprozess gegen sieben Experten nach dem verheerenden Erdbeben in L'Aquila hat ein italienisches Gericht Haftstrafen verhängt. Richter Marco Billi verurteilte sechs Wissenschaftler und einen Behördenvertreter wegen fahrlässiger Tötung zu jeweils sechs Jahren Gefängnis. Vier der Angeklagten waren im Gerichtssaal in L'Aquila anwesend.

Den Experten wurde vorgeworfen, die Risiken des Bebens unterschätzt zu haben, bei dem im April 2009 mehr als 300 Menschen umkamen. Die Erschütterungen hatten das mittelalterliche Zentrum von L'Aquila in ein Trümmerfeld verwandelt, etwa 80.000 Menschen wurden obdachlos.

Die Staatsanwaltschaft hatte Ende September jeweils vier Jahre Haft wegen fahrlässiger Tötung gefordert. Die Analyse der angeklagten Experten kurz vor dem Beben sei "unzureichend und untauglich" gewesen, sagte Staatsanwalt Fabio Picuti zur Begründung.

Bei den Kommissionsmitgliedern handelte es sich um sechs teils prominente Wissenschaftler und den damaligen Vize-Direktor der Katastrophenschutzbehörde, Bernardo De Barnardinis. Die Angeklagten hatten sich sechs Tage vor dem Erdbeben getroffen und waren zu dem Schluss gekommen, dass eine Reihe von vorangegangenen Erdstößen in der Region auf kein erhöhtes Erdbebenrisiko hinweise.

Anschließend hatte Bernardo De Bernardinis unter Berufung auf die Wissenschaftler erklärt, die seismischen Aktivitäten in L'Aquila stellten "keine Gefahr" dar. Ihre Empfehlungen dienten den Behörden als Entscheidungshilfe.

Empörung unter Wissenschaftlern

"Sie hatten einen Teil der Verantwortung", sagte Wania della Vigna, die elf Kläger vor Gericht vertrat. Die Verurteilung werde dazu führen, dass Wissenschaftler in Zukunft "mehr auf die Konsequenzen achten, wenn sie Ratschläge erteilen". Auch etwa ein Dutzend Überlebende waren in dem kleinen Gerichtssaal anwesend.

In der internationalen Wissenschaftswelt waren die Vorwürfe auf Empörung gestoßen. Experten warnten, die Angeklagten würden zu Sündenböcken gemacht. Eine Verurteilung werde dazu führen, dass Wissenschaftler aus Angst vor Prozessen in Zukunft keine Expertise mehr abgeben würden.

Mehr als 5000 Wissenschaftler hatten zum Prozessauftakt vor über einem Jahr in einem offenen Brief an Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano beklagt, dass den Angeklagten ein Strafprozess gemacht werde, obwohl die Vorhersage von Erdbeben bislang technisch unmöglich sei.

© Süddeutsche.de/AFP/jasch - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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