Prozess gegen norwegischen Attentäter:Wiederkehrender Albtraum

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"So ein Aufwand, und alles nur für den Auftritt eines Irren": Viele Norweger leiden unter der ständigen Konfrontation mit Attentäter Anders Behring Breivik. Knapp 70 Prozent finden, dass der nahende Terrorprozess zu viel Platz in den Medien einnimmt. Die Menschen fürchten, das Leid des tödlichen Anschlags noch einmal durchleben zu müssen.

Gunnar Herrmann

Brede Johbraaten hat die Wollmütze tief in die Stirn gezogen, während er sein Boot mit dem Außenborder über den Tyrifjord See steuert. Mehrmals täglich schippert der drahtige Norweger derzeit rüber nach Utøya, um dort Reporter abzusetzen. Und alle wollen von ihm wissen, wie das damals war, als Anders Behring Breivik auf der Ferieninsel 69 Menschen ermordete. Johbraaten ist Besitzer des Utvika Campingplatzes, dessen mutige Gäste am 22. Juli die Jugendlichen aus dem See fischten, während noch Schüsse über das Wasser krachten.

Dem norwegischen Attentäter Breivik wird nach Meinung der Bevölkerung zu viel Aufmerksamkeit eingeräumt. Die meisten Menschen wollen das Attentat von Utøya mit 77 Toten nur noch vergessen. (Foto: dpa)

Ein kleiner Gedenkstein an der Anlegestelle des Zeltplatzes erinnert an die Stunden der Tragödie. 250 Menschen wurden hier ans Ufer geholt - so steht es eingraviert auf der Metallplatte, vor der noch immer frische Rosen liegen. Viel mehr ist nicht mehr zu sehen. Und Johbraaten lässt seine Passagiere deutlich spüren, dass er das Thema eigentlich gründlich satt hat. Er und seine Familie bereiten gerade die nächste Saison vor, die in einigen Wochen beginnt.

Die Gäste sind dem Zeltplatz treu geblieben, sagt er, es gebe so viele Buchungen wie in all den Jahren zuvor, keine Veränderung. Ob er den Prozess verfolgen wird, der am Montag beginnt? Er schüttelt den Kopf. "Nur am Rande, beim Zeitunglesen." Dann blickt er zum Bug seines Bootes in Richtung Ufer. "Vielleicht wäre es besser gewesen, das wäre hier so gelaufen wie neulich in Frankreich, und die hätten ihn damals da draußen erschossen", sagt er ruhig. "Besser als dieser Zirkus jetzt. So ein Aufwand, und alles nur für den Auftritt eines Irren."

Der Campingplatzbesitzer ist nicht der Einzige, der genug hat vom Fall Breivik. Einer aktuellen Umfrage zufolge meinen 68 Prozent der Norweger, dass der nahende Terrorprozess in den Medien zu viel Platz bekommt. Eine Tageszeitung schrieb neulich von einer "22.-Juli-Müdigkeit". Das Boulevardblatt Dagbladet will seine Internetseite in den kommenden Wochen sogar in zwei Versionen anbieten - eine davon Breivik-frei. Insgesamt sind 800 Journalisten aus aller Welt für den Prozess akkreditiert, der mindestens 100 Millionen Kronen (13 Millionen Euro) kosten soll. 17 Gerichte im ganzen Land haben zudem eigene Zuschauersäle eingerichtet, in denen die Verhandlung übertragen wird.

Utøya - eine schaurige Idylle

Auf Utøya selbst hat man die Spuren des Grauens inzwischen penibel getilgt. Die Insel, die seit einigen Wochen wieder für Journalisten geöffnet ist, präsentiert sich im Frühlingsgewand. Auf die Wiesen kehrt das Grün zurück. Verschwunden sind die Absperrbänder der Polizei, die Reste des Zeltlagers - und auch die Einschusslöcher. An einigen Gebäuden hat man eigens die Türen ausgetauscht, um alle Schäden zu beseitigen.

Im Schaufenster des Kiosks stehen Zahnpasta, Seife und Bonbons mit bunten Preisschildern, so als würden jeden Moment Käufer vorbei kommen. Und am Rande des Kaerlighedsstigs, des Liebespfades, der sich am Ufer des herzförmigen Eilands entlangschlängelt, breiten sich Anemonen wie weiße Teppiche aus. Trotzdem: Es ist eine schaurige Idylle. Denn wer könnte sie in diesen Tagen betrachten, ohne daran zu denken, was sich hier abgespielt hat. Die Besitzerin des Kiosks ist tot, erschossen. Und der Liebespfad ist auch der Weg, den Breivik nahm.

Wie schwierig muss es gewesen sein, in Gummistiefeln und Sandalen über diese rutschigen Wurzeln und spitzen Steine zu stolpern. Und wie schroff und hoch sind doch die Klippen, die gleich neben dem Pfad steil in den See abfallen. Über sie haben sich Jugendliche in Panik ins Wasser gestürzt.

Viele der Überlebenden werden in den kommenden zehn Prozesswochen wohl das Gefühl haben, den Albtraum vom vergangenen Sommer erneut durchleben zu müssen. Erst wird der Attentäter mehrere Tage lang im Zeugenstand versuchen, seine Morde mit rechtsextremer Ideologie zu rechtfertigen. Dann werden die Ermittler detailliert jeden einzelnen der 77 Todesfälle von Oslo und Utøya analysieren. Sie werden Obduktionsergebnisse erläutern, Schussverletzungen diskutieren, Fotos zeigen. 61 Überlebende müssen schließlich selbst in den Zeugenstand, ihr Leid zu schildern.

"Ganz Norwegen hat auf diesen Prozess gewartet. Aber wir haben uns auch davor gefürchtet", fasst Øystein Teigre die Stimmung zusammen. Teigre ist Spezialist für klinische Psychologie, er hat schon bei vielen Katastrophen geholfen. Am 22. Juli war er der erste Psychologe, der im Hotel Sundvolden am Tyrifjord eintraf. Er sprach in jener Nacht mit Dutzenden Opfern. Die Geschichten, die er hörte, waren so schrecklich, dass er sich zwischen den Gesprächen bei einem befreundeten Rettungsdienstmitarbeiter buchstäblich ausweinen musste, bevor er weiterarbeiten konnte. Er kämpft immer noch mit den Erinnerungen. "Wenn ich ein Bild von Breivik sehe, fühle ich mich körperlich unwohl", sagt er.

Normalerweise könne ein Gerichtsverfahren für Verbrechensopfer durchaus therapeutische Wirkung haben, sagt Teigre. Der Prozess erfüllt dem Psychologen zufolge dabei drei Funktionen: Ein Tatbestand wird festgestellt und damit eine Wirklichkeit, mit der die Betroffenen weiterleben können. Außerdem wird Schuld zugewiesen und Strafe erteilt. "Aber bei diesem Fall ist alles ganz anders", meint Teigre. Tatbestand und Schuld stehen außer Frage.

Stattdessen drehen sich die Debatten darum, ob der Attentäter geisteskrank ist oder nicht. Der Angeklagte selbst verteidigt sich nicht gegen die Tatvorwürfe und bereut auch nichts, sondern plant, den Zeugenstand als Plattform für rechtsextreme Hassreden zu nutzen. "Das ist alles sehr verwirrend", sagt Teigre. Was der Prozess bei den Betroffenen auslösen werde, sei völlig unabsehbar. Er rät jedem, sich genau zu überlegen, wie viel von diesem Schauspiel er ertragen kann. Er selbst will den Prozess jedenfalls nur in den Fernsehnachrichten verfolgen. "Ich will abschalten können."

"Wir wollen Breivik endlich vergessen können"

Jette Christensen wird nicht abschalten. "Es gehört schließlich zu meinem Job, mich zu informieren", sagt die 28-jährige Abgeordnete der Arbeiterpartei. Richtig froh klingt sie dabei nicht. Christensen war früher selbst im sozialdemokratischen Jugendverband AUF und verbrachte ihre Sommer auf Utøya. Sie kennt viele der Nachwuchspolitiker, die am 22. Juli auf der Insel waren. Fassungslos verfolgte sie an diesem Tag die Anschläge übers Internet, las die verzweifelten Meldungen ihrer Freunde auf Twitter und Facebook. Um ihre Gefühle in diesem Moment zu beschreiben, reiche die norwegische Sprache nicht aus, sagt sie. "Und ich bin froh, dass es dafür keine Worte gibt." Die kommenden Wochen seien nun eine schwere Herausforderung für ihre Partei, der ja die meisten der Opfer angehören.

Trotzdem ist Christensen erleichtert, dass das Verfahren in Gang kommt. Sie hofft, dass es zu einem Schlusspunkt wird. "Norwegen wartet seit mehr als einem halben Jahr darauf, den Fall endlich abzuschließen", sagt sie. "Wir wollen nicht mehr jeden Tag aufs Neue in Zeitungen, Internet, Radio und Fernsehen damit konfrontiert werden." Der Psychologe Teigre sagt es noch deutlicher: "Wir wollen Breivik endlich vergessen können."

© SZ vom 14.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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