Sexueller Missbrauch unter Kindern:Eine Klassenfahrt wird zum Albtraum

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  • Während einer Klassenfahrt in der Uckermark ist ein Junge von einem Mitschüler sexuell missbraucht worden; zwei weitere Jungen sollen ihm dabei geholfen haben.
  • Alle Jungen haben ihre Berliner Grundschule daraufhin verlassen; der Haupttäter soll nun sogenannte "Schulersatzmaßnahmen" erhalten.
  • Strafrechtliche Folgen hat die Tat nicht, weil die drei Jungen nicht strafmündig sind.

Von Verena Mayer, Berlin

Es sollte die typische Klassenfahrt einer Berliner Grundschule werden. 38 Kinder einer vierten Klasse fuhren mit vier Betreuern auf Schloss Kröchlendorff in der Uckermark, das heute ein Gästehaus ist und unter anderem Programme für Schülergruppen anbietet. Floß bauen, am Lagerfeuer sitzen, in der Natur sein. Doch der Ausflug, der die Schülerinnen und Schüler aus der Großstadt hinausbringen und das Gruppengefühl stärken sollte, wurde zu einem Albtraum. Während der Klassenfahrt wurde ein Junge von einem Mitschüler missbraucht. Zwei weitere Jungs hielten ihn fest, andere Kinder sahen dabei zu. Alle beteiligten Schüler waren zehn oder elf Jahre alt.

Die Klassenfahrt fand schon im Juni statt. Aus Opferschutzgründen wurde der Fall nicht publik gemacht, gelangte in den vergangenen Tagen aber durch Boulevard-Medien an die Öffentlichkeit. Und er wirft viele Fragen auf. Wie es zu einer solchen Tat kommen konnte, die Martin Steltner, Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, rechtlich als schweren sexuellen Missbrauch einordnet und "einen ganz schlimmen Fall" nennt. Und wie es mit dem Opfer und den Tätern nun weitergehen soll.

Klar erscheint inzwischen, dass die Tat von einem Jungen ausgegangen sein soll, der aus einer afghanischen Flüchtlingsfamilie kommt und an seiner Schule als "emotional-sozial auffällig" galt. Allerdings war er zuvor noch nicht mit Gewalttaten in Erscheinung getreten, schon gar nicht mit sexuell motivierten. Die beiden Elfjährigen, die das Opfer festgehalten haben sollen, sind ebenfalls Flüchtlingskinder. Eines hat seine Mutter verloren, alle drei haben auf ihrer Flucht traumatisierende Dinge erlebt. Die Tat sollen sie ihrem Opfer gegenüber angekündigt haben, der Zehnjährige wagte allerdings nicht, sich den drei Lehrerinnen und dem Erzieher, die mit auf der Klassenfahrt waren, anzuvertrauen. Erst als sich ein Kind, das zugesehen hatte, nach der Rückkehr in Berlin an einen Schulsozialarbeiter wandte, erfuhr die Schule von der Tat.

Schwere Sexualdelikte unter Kindern sind sehr ungewöhnlich

Der Haupttäter musste die Schule verlassen, Ziel der Berliner Bildungsverwaltung ist es nun, "alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, damit der Täter nicht mehr an eine Regelschule kommt", sagt Beate Stoffers, Sprecherin der Berliner Bildungssenatorin. Er soll so genannte "Schulersatzmaßnahmen" erhalten, also etwa Unterricht in einer Lerngruppe. Die beiden Mittäter wurden an andere Schulen versetzt. Das Jugendamt ist eingeschaltet, die Kinderschutzambulanz der Berliner Charité erstellt nun ein Gutachten, in dem es auch um mögliche Therapien geht.

Strafrechtliche Folgen hat die Tat nicht, die Berliner Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt, weil die drei Jungen nicht strafmündig sind, so Martin Steltner, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Weil ein schweres Sexualdelikt unter Kindern sehr ungewöhnlich sei, habe man deren Alter unter die Lupe genommen, sagt Steltner. Es gebe allerdings keinen Hinweis darauf, dass die Jungen älter seien.

Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) war in Berlin 26 Jahre Schulpsychologe und hat vieles gesehen. Schwere Gewalt, sexuellen Missbrauch durch Lehrer, Suizide, versteckte Schwangerschaften, die in Kindstötung endeten. Von einem Fall wie diesem hat aber selbst er noch nie gehört. Zwar gebe es unter Kindern manchmal sexuelle Übergriffe, "aber hier handelt es sich um große Brutalität und moralische Enthemmung". Der Schule will er keinen Vorwurf machen, er finde es gut, wenn gerade Schulen mit schwierigen und verhaltensauffälligen Kindern auf Klassenreise gehen, "das tut solchen Kindern normalerweise gut". Das Wichtigste sei es nun, dafür zu sorgen, dass Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen mit Lehrerinnen und Eltern Maßnahmen ergreifen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. "Opferschutz ist das erste Prinzip", sagt er.

Gerade Berlin sei in dieser Beziehung eigentlich ganz gut aufgestellt, auf 5000 Schülerinnen und Schüler kommt ein Schulpsychologe, in Sachsen und Niedersachsen ist es gerade einer auf 16 000 Jugendliche. Und Seifried sagt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges zum Besseren gewandelt hätte: Wurden solche Vorfälle früher vertuscht, gingen die Schulen inzwischen offensiv damit um. Dem Opfer des Übergriffs hilft das jedoch nicht: Es hat inzwischen ebenfalls die Schule verlassen.

© SZ vom 04.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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