Wer in Marokko am späten Nachmittag auf der berühmten Straße der Kasbahs auf die Wüstenstadt Ouzarazat zufährt, kann ein Naturschauspiel bewundern. Sobald die Sonne tief steht, flammt die Wüste auf: Tausende kleine Lichtlein schweben dann über dem Boden, manche haben einen bläulichen oder grünlichen Ton, andere sind eher gelb oder orange, die meisten mattweiß. Der Anblick ist spektakulär, das einzige Problem nur: Wirklich "Natur" ist dieses Schauspiel nicht.
Die kleinen Feuerbälle, die da in der Wüste schweben, sind nämlich Plastiktüten, in denen sich das Licht des Sonnenuntergangs bricht. Der Wind trägt sie in die Wüste, wo sie sich in Sträuchern verfangen. In anderen Gegenden Marokkos verschmutzen sie Strände und Meer, die Städte mit ihrer oft mangelhaften Infrastruktur ersticken sowieso im Plastikmüll.
Das soll nun ein Ende haben. Zum 1. Juli trat das "Gesetz Nummer 77-15" in Kraft, ein rigoroses Verbot von Plastiktüten, "eine große Herausforderung für Marokko", wie es Wirtschaftsminister Moulay Elalamy formulierte. Das Unterfangen ist in der Tat ambitioniert: Das Königreich des Monarchen Mohammed VI. hat zwar nur gut 33 Millionen Einwohner, war aber bisher weltweit der zweitgrößte Verbraucher von Plastiktüten hinter den USA. Zu ihrer "Mika", wie die Tüte im lokalen arabischen Dialekt genannt wird, hatten die Marokkaner ein inniges Verhältnis. Wer dort in kleinen Lebensmittelläden einkauft, fühlt sich beim Auspacken, als würde er mit Matroschka-Puppen spielen: Äpfel in einer Tüte und Orangen in einer Tüte in einer weiteren Tüte, zusammen mit der Cola und der Wasserflasche (jeweils in einer Tüte) in einer weiteren großen Tüte: Macht zusammen 26 Milliarden Plastiktüten pro Jahr, für jeden Einwohner 900 Stück.
Nun soll das vorbei sein? Plastikmüll ist eines der größten globalen Umweltprobleme, der Kunststoffmüll braucht fast 500 Jahre, bis er abgebaut ist. Bis dahin verschmutzt er Landstriche und vor allem Ozeane. Trotzdem trauen sich sogar Umweltvorreiter wie Deutschland (76 Plastiktüten pro Einwohner und Jahr) keine solche radikale Wende zu, wie sie Marokko nun anstrebt. Hierzulande wurde nach langer Diskussion nur die kostenlose Abgabe von Plastiktüten verboten.
Aber lässt sich in einer konstitutionellen Monarchie Umweltbewusstsein einfach per Gesetz verordnen? Nun ja, teilweise: Die großen Supermarkt- und Einzelhandelsketten in den Städten halten sich an das Verbot, sie sind ja auch leicht von Behörden zu kontrollieren. Einen Großteil ihrer täglichen Verbrauchsgüter kaufen die Marokkaner jedoch auf Basaren, in kleinen Läden und an Verkaufsständen mit und ohne Lizenz, bei fliegenden Händlern auf dem Gehsteig. Manche von ihnen halten sich an die neue Regel, schließlich sparen sie so das Geld für die Tüten. Anderen sind die Diskussionen mit empörten Kunden zu anstrengend - "bis das Verbot überall angekommen ist, wird es wohl noch ein paar Jahre dauern", schätzt Yassine Zegzouti. "Das wird ein hartes Stück Arbeit."
Viele Menschen wissen gar nicht, wie sie nun ihre Einkäufe nach Hause bringen sollen
Der 31-Jährige ist Vorsitzender der Naturschutzorganisation Marawid, die seit Jahren gegen die Tüten kämpft. "Als wir vor 2010 zunächst ein Verbot in Marrakesch propagierten, haben uns die Leute für verrückt erklärt. Die Händler, die Verwaltung und auch die Kunden." Also begannen Zegzouti und seine Mitstreiter, Infostände neben Märkten aufzubauen, in Schulen Aufklärung zu betreiben, Müllsammelaktionen durchzuführen und mit Infofilmen im Netz für ihre Idee zu werben. "Viele Menschen in Marokko finden Entwicklung viel wichtiger als Umweltschutz", sagt Zegzouti. Marawid versuche ihnen zu vermitteln, "dass alle Entwicklung nichts bringt, wenn wir mit ihr unsere Lebensgrundlagen zerstören. Wir brauchen hier Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung."
Auf offizieller Ebene gab es zwar keine Kontakte zwischen Marawid und dem Wirtschaftsministerium in Rabat, trotzdem ist die Regierung auf die Linie der Aktivisten eingeschwenkt: Mit "Zéro Mika" hat das Ministerium eine landesweite Kampagne aufgelegt, um das Verbot pädagogisch zu begleiten: In TV-Spots ziehen traurige Fischer Netze aus dem Meer, in denen nur noch Plastik hängt, traurige Kinder finden an vermüllten Stränden keinen Platz zum Spielen - bis die Begleitmusik vom Tragischen ins Heroische umschwenkt und alle gemeinsam Meer und Land von Müll befreien. Chafaï Choumicha, die berühmteste TV-Köchin des Landes, zeigt in ihrer Sendung, wie ein Einkauf auf dem Basar auch mit Körben und Jutebeuteln funktioniert, der Youtube-Komiker Simo Sedraty würgt in einem Clip sein verbotsskeptisches Alter Ego mit was? Einer Tüte, natürlich aus Plastik.
Begeistert von dem Bann sind nämlich nicht alle in Marokko. Die Plastikindustrie und ihre Beschäftigten sowieso nicht. "Die Regierung versucht zwar, die sozialen Folgen abzufedern. Um neue Perspektiven zu schaffen, müssten sie aber neue und vor allem nachhaltige Geschäftszweige fördern", sagt Zegzouti. Das geschieht bisher aber genauso wenig wie effektive Kontrollen des Verbots. Die Behörden beschränken sich darauf, Strafen anzudrohen.
Das Verbot ist auch bei manchen Verbrauchern unbeliebt. In den sozialen Netzwerken überbieten sich die Mitglieder mancher Foren und Gruppen mit ironischen Fotos und Videos, in denen sie ratlos auf dem Basar stehen und nicht wissen, wohin sie den tropfenden Fisch oder die empfindlichen Tomaten nun packen sollen. Selbst Öko-Aktivist Zegzouti wird von Bekannten manchmal gefragt, wie sie denn nun ihre Einkäufe heimbringen sollen. Er antwortet dann immer: "Wenn ihr morgens immer daran denkt, euer Handy einzustecken, könnt ihr auch daran denken, einen Jutebeutel mitzunehmen."