Katastrophe von Galtür:"Der Schnee war hart wie Beton"

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Zehn Jahre nach der tödlichen Lawine von Galtür: Sechs Erinnerungen von dort lebenden Menschen, über die eine Naturgewalt hereinbrach.

Jochen Temsch

Hermann Pfeifer, 45, Pensionsbesitzer, stellvertretender Betriebsleiter der Bergbahnen von Galtür

Hermann Pfeifer (Klicken Sie auf das Bild für ein größere Aufnahme) (Foto: Foto: Jochen Temsch)

"Ich wollte gerade in die Pension gehen, da habe ich einen Knall gehört. Ich war über Funk mit einem Kollegen verbunden, der mir gesagt hat, dass eine Lawine runter ist. Das Ausmaß habe ich nicht gekannt.

Dann bin ich in den Bereich hineingelaufen - das war arg. Es hat unser Haus komplett weggefegt. Die 14 Menschen, die drin waren, waren alle tot, darunter ganze Familien. Kein einziger konnte gerettet werden. Da war nichts mehr zu machen.

Ohne Bagger konnten wir nicht einmal graben. Dann habe ich woanders geholfen. Wo wir gesehen haben, dass noch Kleider oder Schuhe rausragen, haben wir mit bloßen Händen gegraben, da kann man ja nicht mit der Schaufel reinstechen. Doch der Schnee war hart wie Beton, da hat man nur ganz kleine Stückchen herausbekommen.

Ein paar Leute konnten wir herausholen. Körperliche Verletzungen haben wir als Laien nicht erkannt. Wir haben versucht, den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, wenn sie bewusstlos waren. Die Gäste in der Pension waren Stammgäste, ich habe sie alle gekannt.

Ihre Angehörigen, die zum Zeitpunkt der Lawine nicht im Haus waren, kommen immer noch regelmäßig auf Besuch. Wir haben eine Beziehung, ein freundschaftliches Verhältnis. Es wird immer wieder angesprochen, jeder will darüber reden. Die Kinder wären heute 20, 25 Jahre alt, wie meine. Es ist schwierig, das zieht man im ganzen Leben nach."

Gottlieb Lorenz, 49, Wirt der Jamtalhütte und Pensionsbesitzer

Gottlieb Lorenz (Klicken Sie auf das Bild für ein größere Aufnahme) (Foto: Foto: Jochen Temsch)

"Am 22. Februar, einen Tag vor der Lawine auf Galtür, zerstörte eine Lawine die Jamtalhütte teilweise. Ich saß dort mit einem Handwerker und drei jungen Gästen auf über 2000 Metern Höhe fest.

Die Ostseite war total beschädigt, die Gaststuben im Erdgeschoss waren mit Schnee gefüllt, alle Fenster eingehauen, auch im ersten und zweiten Stock, alles voller Schnee. Meine Familie bewirtschaftet die Hütte in der vierten Generation. Seit 120 Jahren steht sie an dieser Stelle.

Wie eine Bombe

Wir haben uns nie gefürchtet, nie ist etwas passiert. Ich hielt Funkkontakt ins Tal. Meine Frau war schwanger. Ich hatte bestimmte Uhrzeiten mit ihr ausgemacht.

Am 23. Februar um halb drei erzählte sie mir, dass meine Mutter auf Besuch gekommen ist. Sie kam, weil meine Frau so besorgt war. Die nächste Funkzeit war für halb sieben verabredet - da hat sich niemand mehr gemeldet. Im Radio hörte ich, dass eine Lawine heruntergekommen war.

Aber ich wusste zunächst nicht, dass es den Ortsteil Winkl, wo unser Haus stand, so stark getroffen hatte. Dann wurden die Nachrichten immer konkreter. Am nächsten Morgen war endlich Flugwetter. Mein Vater kam mit einem Militärhubschrauber.

Ich sah es ihm schon an, das etwas Schlimmes passiert ist. Als ich mein Haus sah - das war verheerend, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Meine Mutter und meine Frau hatten keine Chance. Für mich war es unfassbar, dass so etwas möglich ist.

Mein Haus liegt in der grünen Zone, die als absolut lawinensichier galt. Ich habe schon viele Großlawinen im Paznaun gesehen, aber erst seit ich diese Lawine gesehen habe, weiß ich, was eine Lawine ist. Wie soll ich das erklären...es war sehr schwer.

Dann wurden die Gäste ausgeflogen. Galtür war menschenleer. Es gab nur noch die Einheimischen inmitten der Verwüstung. Wie auf einem anderen Planeten. Der Glaube hat mir geholfen. Die Schuldfrage habe ich mir nicht gestellt.

Das war eine Naturkatastrophe, die nicht vorhersehbar war. Selbst wenn einer von der Lawinenkommission gekommen wäre und gesagt hätte, wir müssten raus aus unserem Haus, hätte ich gesagt: Du hast einen Vogel, wir bleiben. Die Aufbauarbeit tat gut. Ich konnte nicht mehr so viel nachdenken, ich war unter Strom: Du musst weiter, du musst weiter!

"Ich brauchte Hilfe und fand meine Frau"

Die DAV-Sektion Schwaben, der die Jamtalhütte gehört, gab mir Halt. In vier Monaten bauten wir die Hütte wieder auf. Das Leben normalisierte sich zum Teil wieder langsam. Ich war mir immer bewusst: Auch wenn mich das Schicksal so hart trifft - einmal wird wieder die Sonne scheinen. So ist es auch gekommen: Ich brauchte Hilfe, suchte Mitarbeiter, fand dadurch meine heutige Frau, mit der ich eine Tochter habe.

Ich bin froh, dass ich auf einem normalen Weg bin, das Leben geht weiter, aber vergessen werde ich das nie, das ist mit mir drin. Der zehnte Jahrestag spielt für mich keine große Rolle. Es ist kein besonderer Tag, sondern einer wie jeder andere. Denn: Ich denke sowieso jeden Tag an die Lawine. Mir ist es bewusst, dass die Menschen beim Namen Galtür sofort an die Lawine denken, dass wir mit einem negativen Ereignis verknüpft sind.

Aber für mich ist es schon ein Fortschritt, wenn sie sagen, da WAR mal eine Lawine, nicht, wir seien das Lawinendorf. Neulich beim Skifahren in Ischgl, da hörte ich im Lift jemanden sagen: Ach da hinten, Galtür, gibt's das eigentlich noch? Dann frage ich mich schon: Was sind das eigentlich für Leute?

Aber sowas berührt mich nicht. Vor neun Jahren hätte ich mich wahnsinnig geärgert. Heute denke ich nur: Du hast ja keine Ahnung."

Lawinenunglück
:Die Katastrophe von Galtür

Dr. Walter Köck, 86, 30 Jahre lang Arzt im Paznauntal

"Ich habe in der Nacht nach der Lawine bei der Versorgung der Opfer geholfen. Zum Beispiel konnte die Haushälterin des Pfarrers gerettet werden. Die Lawine hatte den Fensterstock des Hauses eingeschlagen und die Frau unters Waschbecken gepresst.

Die Schale hat sie geschützt. Dann habe ich den Kontakt zur Außenwelt gehalten. Das Telefonnetz war zusammengebrochen, und ich bin der einzige Amateurfunker im Paznauntal. Ich konnte den Leuten da draußen natürlich nicht sagen: Eure Söhne sind verschüttet.

Sondern andersherum: Sie leben noch. Das war eine Freude für die Empfänger dieser Nachricht! Mehr als den Kreislauf der Ausgegrabenen zu stützen, konnten wir kaum tun. Es gab auch Gefäßerkrankungen, Knochenbrüche, stark blutende Wunden.

Liebliche Rotoren

Eine Nacht lang waren wir ganz auf uns alleine gestellt. Erst am nächsten Morgen kamen die Helikopter ins Tal gedonnert - die Rotoren klangen für uns wie liebliches Geläute.

Das Härteste war dann, dass die Gäste weg waren. Nicht einmal wegen des Finanziellen, sonderen: Wir waren einsam, wir hatten niemanden mehr zur Ansprache, nur noch uns selbst."

Diakon Karl Gatt, 54, Seelsorger von Galtür

"Menschen und Orte verändern sich. Aber wenn eine Katastrophe passiert, dann verändert man sich von einer Sekunde zur nächsten. Galtür war ein Tourismusort wie jeder andere, und mit der Lawine war nichts mehr wie vorher.

Menschen haben ihre Partner verloren, ihre Kinder. Die Frage war: Wie geht es weiter? Wie bewältigen wir das? Schaffen wir das überhaupt? Warum ist das passiert?

Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Menschen umarmt wie in dieser Zeit. Sie sagten, ohne ihren Glauben würden sie es nicht packen. Ich glaube, dass auch der liebe Gott traurig darüber war, dass das Unglück passiert ist, deshalb hat er uns auch so viele Helfer geschickt.

Wir hatten auch Psychologen da, aber die waren keine Hilfe, denn die konnten mit dem Glauben nichts anfangen. Ich habe es auch auf der Jamtalhütte erlebt, als die Lawine vom Dezember 1999 Skitourengeher verschüttet hat: Wenn Menschen Menschen verlieren, möchten sie einen Seelsorger an ihrer Seite haben, keinen Psychologen.

"Galtür ist eine Kraftquelle"

Vor meiner Weihe habe ich 20 Jahre lang als Kassierer am Skilift gearbeitet. Ich kenne Galtür und seine Bewohner. Galtür ist eine Kraftquelle, an der man im wahrsten Wortsinn Kraft schöpfen kann. Das hat Galtür geschafft: dass wir füreinander da sind. Ein Galtürer traut sich heute zu sagen, es geht ihm nicht gut - das war früher undenkbar.

Das kommt vom vielen gemeinsamen Reden über das Unglück. Aber ich glaube nicht, dass man so eine Lawine überhaupt einmal ganz wegstecken kann. Das Unglück ist ein Einschnitt, der bleibt. Es ist, wie der Philosoph Kierkegaard sagt: ,Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.' "

Anton Mattle, 45, Bürgermeister von Galtür, Abgeordneter im Landtag von Tirol

"Die Naturgewalten haben das Leben in Galtür schon immer geprägt. Wenn man so exponiert auf 1600 Höhenmetern lebt, ist das eben so. Aber diese Lawinen konnte niemand vorhersehen.

In dem Ortsteil, den der Schneeabgang getroffen hat, ist vorher noch nie etwas passiert - das hat ein Historiker in unserem Pfarrarchiv erforscht, in dem es eine lückenlose Chronik bis zurück ins Jahr 1420 gibt.

Nach dem Unglück haben wir alles hinterfragen müssen: Wenn selbst die als sicher angesehenen Ortsräume plötzlich unsicher sind - wo sind wir dann überhaupt noch sicher? Inzwischen sind zehn Millionen Euro in Bergverbauungen, Schutzmauern, Aufforstungsprojekte und Galerientunnel geflossen. Es gibt kaum einen Ort in den Alpen, an dem man so viel in die Sicherheit investiert hat.

Es ist mir sehr wichtig, dass wir den Kontakt zu den Angehörigen halten. Dieses persönliche Verhältnis zu unseren Gästen ist etwas Besonderes, das den Charme von Galtür mit ausmacht. Aber nach dem 23. Februar waren erst einmal alle weg. Wir haben uns gefragt, wie es weitergehen soll. Doch selbst Leute, die sehr schwer vom Schicksal getroffen worden sind, haben gesagt: Wir machen weiter! In der Karwoche waren wir ausgebucht.

Unsere Stammgäste kamen, außerdem viele Österreicher, die ihre Solidarität zeigten. Mit diesen ersten Gästen nach der Katastrophe haben wir gelernt, über die Lawine zu reden; diese Gespräche waren für uns unheimlich wichtig. Doch dann kam der Einbruch der Gästezahlen, erst 2003 hat sich der Tourismus langsam wieder erholt.

Das Unglück hat uns Galtürer damals zusammengeführt, aber jetzt sind wir längst wieder ein ganz normales Touristendorf mit den üblichen Kleinstreitereien. Wir sind wirtschaftilch über die Katastrophe hinweg, sie ist kein tägliches Thema mehr. Aber die Betroffenen denken natürlich ständig daran, das strahlt auch auf den Ort aus."

Martina Wenko, 41, Pensionsbesitzerin, Mutter von Felix, 9, Hanna, 6, Maristella, 2. Felix ist das erste Galtürer Kind, das nach der Lawine geboren wurde

"Mein Mann war Platzsprecher beim Fassdaubenrennen im Dorfzentrum. Ich war zu Hause, im neunten Monat schwanger. Ich weiß noch, wie es für ein paar Augenblicke dunkel wurde.

Da war mir klar, dass etwas passiert war. Mein Mann kam und ging gleich wieder, Verschüttete ausgraben. Ein Bekannter sagte, im Dorf sehe es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich dachte, er übertreibt. Dann haben sich die Berichte überschlagen.

Ich habe mir natürlich Gedanken gemacht, was wäre, wenn es bei mir zu Komplikationen kommt - aber ich habe versucht, diese Sorgen nicht an mich heranzulassen, ruhig zu bleiben, mich nicht aufzuregen, damit es womöglich nicht noch früher mit der Geburt losgeht als geplant.

Felix kam dann am 9. März auf die Welt, ganz normal, da waren die Straßen ins Krankenkenhaus schon längst wieder offen. Felix ist das erste Kind, das nach der Lawine geboren worden ist. Für uns war das etwas ganz Besonderes. Man hat einfach wieder das Gefühl gehabt, es geht wieder von vorne los - es gibt einen Neustart."

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