Kanada:Happy End

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Mit einem bearbeiteten Bild wurde jahrelang nach Edgar Latulip gesucht. (Foto: dpa)

1986 verschwand Edgar Latulip spurlos, seine Mutter hielt ihn bald für tot. Nun ist er wieder aufgetaucht - er wohnte 30 Jahre lang in der Nähe seines Elternhauses, konnte sich jedoch nicht an seine Identität erinnern.

Von Claus Hulverscheidt, New York

Am 2. September 1986, irgendwann um die Mittagszeit, ließ Edgar Latulip die Haustür des kleinen Wohnheims hinter sich ins Schloss fallen und machte sich auf den Weg. Er nahm den Bus in Richtung Niagara Falls, jener Heimstatt der berühmten Wasserfälle, die rund 140 Kilometer von seinem südkanadischen Heimatort Kitchener entfernt liegt. Etwa 20 Kilometer vor dem Ziel stieg der 21-Jährige aus. Was er in St. Catharines wollte, weiß niemand, jedenfalls muss er auf seinem Fußmarsch gestolpert und auf den Kopf gefallen sein. Von diesem Moment an wusste Edgar Latulip nicht mehr, dass er Edgar Latulip ist. Fast 30 Jahre lang.

Bis vor ein paar Wochen.

Die unglaubliche Geschichte des Edgar Latulip, der für drei Jahrzehnte unter anderem Namen nur anderthalb Autostunden entfernt von seiner ahnungslosen Familie wohnte, wühlt derzeit ganz Kanada auf. Sie rührt Menschen zu Tränen, lässt andere wieder an Gott glauben und wieder andere endgültig an ihm verzweifeln.

Was genau Latulip seinerzeit antrieb, ist immer noch nicht klar. Der heute 50-Jährige ist in seiner geistigen Entwicklung ein wenig zurückgeblieben, außerdem kommt seine Erinnerung nur bruchstückweise zurück. Was man bisher weiß, haben Polizisten der beiden betroffenen Bezirke Waterloo und Niagara aus den verfügbaren Fakten und Aussagen rekonstruiert.

Als Latulip nach seinem Sturz aufgefunden wurde, konnte er sich an nichts erinnern: nicht daran, wie er heißt, nicht, wo er wohnt, an gar nichts. Schließlich wählte er mit behördlicher Genehmigung einen neuen Namen, unter dem er bis heute ohne fremde Hilfe in St. Catharines wohnt. Warum es den beteiligten Polizeidienststellen über all die Jahre nicht gelang, die Vermisstenanzeige in Kitchener und das Auffinden eines Mannes ohne Identität in St. Catharines zusammenzubringen, gehört zu den Kuriositäten und zur Tragödie dieses Falles. 1993 erhielt die Bezirkspolizei in Latulips Heimatort einen Hinweis, der Vermisste sei im benachbarten Waterloo gesehen worden. Doch die Ermittlungen, so erinnert sich der Kripo-Beamte Duane Gingerich, verliefen einmal mehr im Sande.

Es muss um die Jahreswende 2015/16 gewesen sein, als Latulip merkte, dass die ersten Gedankenfetzen zurückkehren. Er erinnerte sich plötzlich an seinen richtigen Namen und an seine Heimatstadt - und als er einer Sozialarbeiterin, mit der er gemeinsam Behördendokumente ausfüllte, davon erzählte, machte sich die Dame umgehend im Internet auf die Suche. Sie fand Latulips Namen auf einer Seite für vermisste Personen, sie fand Zeitungsartikel, die sich mit den Aussagen ihres Schützlings deckten, und schließlich ging sie zur Polizei. Ein langes Interview und ein DNA-Vergleich mit einem mutmaßlichen Verwandten des Vermissten brachten schließlich Klarheit: Der unbekannte Mann aus St. Catharines ist in Wahrheit Edgar Latulip aus Kitchener.

Seine Mutter Silvia Wilson, die inzwischen in der kanadischen Hauptstadt Ottawa lebt, kann die Nachricht immer noch nicht so richtig fassen: "Ich wusste nicht, was ich denken soll. Mir blieb der Atem stehen", berichtete die 67-Jährige der Lokalzeitung The Record. "Ich möchte mit meinem Sohn reden und alles tun, was ihm hilft." Ob sich die beiden mittlerweile getroffen haben, blieb zunächst unklar, Mutter und Sohn sollten behutsam auf das Wiedersehen vorbereitet werden.

Wilson hatte jahrzehntelang die Angst umgetrieben, Edgar könne missbraucht oder getötet worden sein oder sich etwas angetan haben - schon früher hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Polizei mutmaßte, er habe sich die Niagarafälle heruntergestürzt, wie so viele vor ihm. Doch Latulip lebte all die Jahre - nur ganze 20 Kilometer von den Wasserfällen entfernt.

© SZ vom 15.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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