Haiti: Helfer im Chaos:Die Angst in den Augen der Opfer

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Tausende Leichen, Chaos, Verzweiflung: Selten haben Hilfsorganisationen solche Zerstörungen angetroffen. Und die Helfer riskieren ihr Leben.

Judith Raupp

Rick Perera ist fassungslos: "Als wir auf dem Flughafen in Puerto Plata im Norden der Dominikanischen Republik landeten, wurden wir mit Musik, Cocktails und von spärlich bekleideten Tänzerinnen begrüßt", berichtet der Teamleiter der Hilfsorganisation Care. Es war für ihn eine "völlig surreale Erfahrung", so "als ob wir als Touristen in die Dominikanische Republik gereist wären". Surreal, weil im Nachbarland Haiti Menschen sterben und Helfer wie Rick Perera nicht schnell genug ins Katastrophengebiet gelangen können.

Neun Stunden kämpften die Helfer um das Leben dieses Mannes, doch trotz aller Bemühungen konnten sie ihn nicht aus seiner verzweifelten Lage befreien, weil die Hilfsmittel fehlten: Szene vom Donnerstag aus Port-au-Prince. (Foto: Foto: AFP)

Nach Berichten von Reportern stapeln sich die Leichen in den Straßen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Wie viele Tote und Verletzte das Erdbeben gefordert hat, ist noch unklar. Manche sprechen von 50.000 Toten, andere von 140.000. Die Lage ist schon in Port-au-Prince unübersichtlich.

Inzwischen weiß man, dass es auch in anderen Landesteilen Schäden und Opfer gegeben hat. Viele Straßen sind kaputt oder verschüttet. Solange die schweren Räumfahrzeuge aus dem Ausland noch nicht eingetroffen sind, kommen die Helfer nicht aufs Land. Tausende Leichen sollen in Port-au-Prince bereits auf Lastwagen abtransportiert worden sein, und Soldaten der Vereinten Nationen heben erste Massengräber aus.

Im Video: In Haiti wächst die Verzweiflung und schwindet die Hoffnung. Für die Überlebenden ist es ein nackter Kampf ums Überleben. Noch immer gibt es kaum sauberes Trinkwasser oder Nahrung für die Überlebenden in der Hauptstadt Port-au-Prince. Mehr noch: In den Straßen liegen massenweise Leichen,es riecht es nach Verwesung. Schätzungen gehen von 100.00 Toten aus. Und die Zeit wird knapp, nach 72 Stunden sinkt Chance noch Überlebende zu finden rapide.

Eine Sprecherin von Care erklärt, die toten Körper müssten möglichst schnell weggeräumt werden, weil sonst Seuchen ausbrechen könnten. Bei den hohen Temperaturen verwesen die Leichen schnell, und so könnten sie das Wasser verunreinigen.

Es gibt nur eine ungenügende Versorgung mit sauberem Wasser. Die Menschen trinken deshalb aus Pfützen. Sie könnten schnell krank werden, erklärt die Care-Sprecherin. Die Weltgesundheitsorganisation teilte dagegen mit, zunächst bestehe keine Seuchengefahr. Es sei auch nicht ratsam, die Leichen sofort in Massengräbern zu beerdigen. Für die Hinterbliebenen ist es wichtig, dass die Opfer identifiziert werden. Der Schmerz ist ein wenig leichter zu ertragen, wenn zumindest bekannt ist, wo die Angehörigen zu Tode kamen und beerdigt wurden.

Das größte Hindernis für eine schnelle Nothilfe ist der Engpass am Flughafen in Port-au-Prince. Er ist nur teilweise benutzbar. "Es gibt viel zu wenig Stellplätze für die Flugzeuge. Die Hilfsgüter müssen entladen werden, das dauert seine Zeit", erklärt ein Sprecher des Technischen Hilfswerks. Die Maschinen müssen lange in der Luft kreisen, bis sie landen können. Viele Helfer fliegen deshalb zunächst in die Dominikanische Republik und schlagen sich dann auf dem schwierigen Landweg bis Port-au-Prince durch.

Das Care-Team von Rick Perera ist am Donnerstag von Atlanta in den USA aufgebrochen. Gleich nach der Ankunft in Puerto Plata sind die zwölf Helfer in Richtung der haitianischen Grenze gefahren. In Barahona mussten sie übernachten. Denn es ist gefährlich, im Dunkeln zu fahren. Die Straßen könnten verschüttet sein, außerdem lauern auf der haitianischen Seite Banditen. Manche Regionen in Haiti waren schon vor dem Erdbeben unsicher. Und nun sind in Port-au-Prince nach Angaben des Roten Kreuzes etwa 4000 Häftlinge entflohen, als ein Gefängnis durch das Erdbeben zerstört wurde. Fast 70 Prozent der Häuser sollen in Haitis Hauptstadt eingestürzt sein.

Je nach Zustand der Straßen dauert es fünf bis zehn Stunden, bis die Hilfsteams in Bussen oder Jeeps von den Flughäfen in der Dominikanischen Republik nach Port-au-Prince gelangen. Für die Verschütteten zählt aber jede Minute. Etwa 72 Stunden können sie unter den Trümmern überleben. Wer in einem Hohlraum liegt, schafft es vielleicht ein bisschen länger. Manche haben ihre Kinder, Eltern oder Geschwister mit bloßen Händen ausgegraben und sprechen den Schwerverletzten nun Mut zu. Viel mehr können sie nicht tun.

Nora Junker, eine Kieferorthopädin aus München, verbrachte zur Zeit des Erdbebens ihren Urlaub im Hotel Montana in Port-au-Prince. Mit viel Glück konnte sie sich selbst aus den Trümmern retten, nun ist sie in Santo Domingo in der Dominikanischen Republik. "In Haiti herrscht das absolute Chaos, die Menschen dort brauchen dringend Ärzte, Medizin, Wasser und Unterkünfte", sagt sie. Sie befürchtet, dass es zu Unruhen kommen könnte, wenn die Hilfe nicht schnell ankommt. Denn nach dem ersten Schock wächst mittlerweile die Wut bei den Überlebenden. Sie fühlen sich vor allem vom Staat im Stich gelassen. Statt zu helfen würden die Polizisten und Soldaten nur darüber wachen, dass niemand plündere oder in den Trümmern grabe, klagen sie. Aus Frust haben sie Tote zu Mahnmalen gestapelt. Am Freitag hieß es zunächst, es sei bereits ein Lager des Welternährungsprogramms geplündert worden. Später dementierten die Vereinten Nationen dies allerdings.

Das Dilemma ist, dass viele Helfer selbst traumatisiert sind. In Haiti, dem ärmsten Land Amerikas, waren schon vor dem Erdbeben viele Organisationen stationiert. Mehr als die Hälfte der neun Millionen Einwohner müssen im Schnitt mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Ihre Hoffnung waren die ausländischen Helfer. Nun aber sind viele Helfer tot. Und die Überlebenden trauern um ihre Angehörigen und Freunde.

© SZ vom 16.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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