Gletschermumie:Ötzi lebt

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Vor 25 Jahren entdeckten die Wanderer Erika und Helmut Simon die Gletschermumie Ötzi. Heute gibt es Kinofilme über den Mann aus dem Eis, Menschen essen Ötzi-Pizza und nehmen an "Ötzi Glacier Tours" teil.

Von Titus Arnu

Der Eismann kommt. Er reist auf dem Luftweg an. Ein Hubschrauber landet auf einem Schneefeld am Tisenjoch in den Ötztaler Alpen. Und dann beginnt auf 3200 Metern eine kuriose Totenprozession. Aus dem Helikopter steigen: Erika Simon, die zusammen mit ihrem Mann Helmut vor 25 Jahren an diesem Ort einen seltsamen Toten entdeckte; Walter Leitner, Archäologe von der Universität Innsbruck; Leonhard Falkner, Geschäftsführer des Ötzi-Dorfes in Umhausen. Falkner schleppt einen schwarzen Plastiksack, in dem eine bizarr verbogene, dunkelbraune Gestalt steckt. Es ist eine Kunststoff- Nachbildung des bekanntesten Bergtoten der Welt: Ötzi.

Die Finderin

Erika Simon stapft durch den Schnee, gestützt von Bergführer Kilian Schreiber. Sie ist 76 Jahre alt und nicht mehr so gut zu Fuß wie damals am 19.9.1991, als die Touristin aus Nürnberg zusammen mit ihrem Mann Helmut am frühen Nachmittag von der 3514 Meter hohen Fineilspitze abstieg und unterhalb des Hauslabjochs über die mysteriöse Gletscherleiche stolperte. Während Erika Simon zum x-ten Mal erzählt, wie ihr Mann damals ein einziges Foto machte, bevor der Film voll war, ziehen Walter Leitner und Leonhard Falkner den Ötzi-Dummie aus der Plastiktüte. Sie drapieren ihn für die Fotografen so im Schnee, wie er auf Helmut Simons Foto zu sehen war. Mit dem Kopf nach unten, ein Arm und ein Teil des Rückens ragen aus dem Eis. "Ich hab' mich nicht gegruselt, er lag ja so friedlich da", erinnert sich Erika Simon, "wir dachten, das ist ein verunglückter Skitourengeher."

Das Jubiläum

War er nicht. Wie sich viel später herausstellte, handelte es sich um eine wissenschaftliche Sensation: eine fast unversehrte, knapp 5300 Jahre alte Mumie, älter als Pharao Tutanchamun. Ein österreichischer Journalist erfand den Namen "Ötzi", in Italien wurde der Tote als "l'Uomo del Similaun" berühmt, im englischen Sprachraum als "Frozen Fritz". Zum 25. Jubiläum wird die "älteste Feuchtmumie der Welt" ordentlich gefeiert, zum Teil feuchtfröhlich: Am Fundort stoßen etwa 20 geladene Gäste mit Erika Simon an, es gibt Zirbenschnaps aus Plastikbechern. Beim "3rd Bolzano Mummy Congress" in Südtirol werden dieser Tage neue Forschungsergebnisse präsentiert, zum Beispiel über den Mageninhalt. Außerdem soll eine Rekonstruktion der Stimme versucht werden. Profiler aus München haben den Fundort kriminologisch unter die Lupe genommen. Im Schnalstal gibt es ein Musikfestival zu Ehren der Gletschermumie, die Touristiker bieten eine "Ötzi Glacier Tour" zur Original-Fundstelle an, und mit der "Ötzi25-Vorteilskarte" bekommt man Rabatte. Jährlich besuchen 300 000 Touristen das Bozener Ötzi-Museum. Zu den Fans zählt auch Hollywoodstar Brad Pitt, der sich Ötzis Umrisse auf den Unterarm tätowieren ließ. Unwissenschaftliche Diagnose: Die Mumie wirkt magnetisch auf Menschen.

Erika Simon steht, wo sie am 19.9.1991 Ötzi entdeckte. Damit das Foto spannender wird, liegt dort eine Ötzi-Puppe.

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(Foto: Paul Hanny)

Die Bergsteiger Hans Kammerlander und Reinhold Messner waren vor 25 Jahren auch vor Ort.

Am Fundort steht heute eine Stele.

Die Mumie ruht im Museum in Bozen.

Die Bergung

Vor 25 Jahren war die Begeisterung noch nicht so riesig. Ein weiterer Toter im Hochgebirge, na und? Routine für die zuständigen Einsatzkräfte. Anton Koler war einer der Ersten an der Fundstelle. Der mittlerweile pensionierte Alpin-Polizist aus dem Ötztal sollte die Leiche gemeinsam mit Markus Pirpamer bergen, dem Wirt der nahegelegenen Similaunhütte. Mit einem Pressluftmeißel und Skistöcken begannen sie den Körper direkt nach seinem Fund aus dem Eis zu befreien und standen dabei zeitweise bis zu den Achseln im Schmelzwasser. Es sei eine "feine Arbeit" mit Ötzi gewesen, sagt Koler heute, er habe eine "schöne Partnerschaft mit ihm gehabt da oben". Im Unterschied zu anderen Gebirgstoten habe die Gletscherleiche keinen üblen Geruch verbreitet, die Haut war glatt und ledrig. "Er war leicht wie eine Handtasche", erzählt Markus Pirpamer, "der Körper fühlte sich an wie Speck." Bei der Leiche lag ein Beil aus Holz und Kupfer, das Koler "spanisch" vorkam, wie er sagt. Daneben entdeckte er weiteres "Gerümpel". Die Axt schätzte er damals auf 150 Jahre und nahm sie mit zur Polizeiwache. Bei der Bergung wurde die Leiche an der Hüfte beschädigt und ihr steif gefrorener Arm gebrochen - sonst hätte der Tote nicht in den Metall-Sarg gepasst, der in Vent im Ötztal bereitstand. Der Bestatter habe den Arm "reingebogen und schnell den Deckel zugemacht, damit der Arm nicht wieder aus dem Sarg herausschnellt", erzählt Ernst Schöpf, Bürgermeister von Sölden.

Die Forschungsergebnisse

Erst einmal landete Ötzi in der Gerichtsmedizin in Innsbruck. Dort wurde er notdürftig mit Eiswürfeln gekühlt und sollte anatomisch untersucht werden. Zum Glück sahen die diensthabenden Mediziner davon ab, die Leiche in Scheiben zu schneiden, sonst wäre Ötzi für die Wissenschaft verloren gewesen. Der Anatom Othmar Gaber gehörte zum Team, das sich während der ersten sechs Jahre um die Mumie kümmerte. Ötzi lagerte in einer Klimazelle, die Temperatur und Feuchtigkeit des Gletschereises simulierte. Höchstens 20 Minuten und nur alle vier Wochen nahmen die Forscher die Mumie für Untersuchungen aus der Zelle. Mit der Radiokarbon-Methode fanden sie ihr unglaubliches Alter heraus: Der Mann aus dem Eis lebte zwischen 3350 und 3100 vor Christus, in der späten Kupfersteinzeit. Mittlerweile weiß man, dass Ötzi an Karies, Immunschwäche, Parasiten und Laktoseintoleranz litt und zahlreiche Tätowierungen hatte. Auch sein Erbgut ist bereits entschlüsselt. Ötzis mütterliche Vorfahren-Linie dürfte bald nach ihm ausgestorben sein, sagt der Anthropologe Albert Zink, der am Bozener Mumien-Forschungsinstitut arbeitet. Die väterliche Linie sei aber heute noch in Europa zu finden, bei etwa einer Million Menschen, vor allem in entlegenen Regionen von Sardinien und Korsika. Ötzi als Migranten zu bezeichnen und politisch zu instrumentalisieren, ist aus wissenschaftlicher Sicht allerdings ganz klar Mumien-Mumpitz: "Direkte Verwandtschaftsbeziehungen sind mehr als 200 Generationen später nicht mehr feststellbar", sagt Zink. Dennoch wurde ein angeblicher Angehöriger zum Jubiläum eingeladen: Simon Gerber ist einer von 22 Schweizern, die mit Ötzi genetisch verwandt sind - nach eigenen Angaben hat Gerber "ähnlich schlechte Zähne" wie der Eismann, Laktose vertrage er auch nicht.

Die Grenze

Am Tisenjoch steht eine vier Meter hohe Stein-Pyramide mit einer Metallspitze, tibetische Gebetsfahnen flattern im Wind. In einem Holzkasten liegt ein Gästebuch, in das sich Wanderer eintragen, die auf der Route E5 die Alpen überqueren und einen Abstecher zum Ötzi-Fundort machen. Von der Gedenk-Stele aus sieht das Gelände so aus, als läge der Fundort auf der österreichischen Seite, denn die Senke, in der die Gletscherleiche lag, neigt sich in Richtung Ötztal. Als die Bedeutung des Fundes klar wurde, entbrannte ein Grenzstreit zwischen Nord- und Südtirol. "Wenn ich nicht so schnell am Fundort gewesen wäre und die Stelle auf italienischem Gebiet verortet hätte, dann hätten die Österreicher Ötzi geklaut", sagt Reinhold Messner, der im September 1991 zusammen mit Hans Kammerlander die Grenze zwischen Italien und Österreich zu Fuß abwanderte und einen Tag nach dem Fund vor Ort war. Um die Lage zu klären, muss man bis zum Ersten Weltkrieg zurückgehen: Im Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye zwischen Österreich und den Alliierten sowie den assoziierten Mächten war 1919 die Grenze entlang der Wasserscheide zwischen Inn- und Etschtal festgelegt worden. Im Bereich des Tisenjochs war zum Zeitpunkt der Grenzziehung der Gletscher aber noch 20 Meter dick und die natürliche Wasserscheide daher nicht genau bestimmbar. Die Neuvermessung des Grenzverlaufes am 2. Oktober 1991 brachte Gewissheit: Der Fundort befindet sich exakt 92,56 Meter von der Staatsgrenze entfernt in Südtirol.

Die Verschwörungstheorien

Der mysteriöse Mann aus dem Eis nährte von Anfang an wilde Spekulationen. Schon das Funddatum 19.9.91 ist schließlich magisch, man kann es vorwärts und rückwärts lesen. Haben die Illuminaten etwas damit zu tun? Handelte es sich um ein Sintflut-Opfer? Reinhold Messner wurde unterstellt, eine ägyptische Mumie dort versteckt zu haben. Ein Mann glaubte, an Ötzis Tätowierungen seinen verschollenen Onkel Enno wiederzuerkennen, Ötzis Habseligkeiten seien eindeutig dem "Hausrat der Tante Annelise zuzuordnen". Die Bielefelder Sozialpädagogin Renate Spieckermann behauptete, sie sei die Wiedergeburt von Ötzi, und veröffentlichte schon 1994 die angeblichen Memoiren der Mumie. Einige Esoteriker sehen in der Gletschermumie einen magischen Boten, der vor dem Klimawandel warnt.

Der Fluch

Gerichtsmediziner Günter Henn hatte 1991 den tiefgefrorenen Körper mit bloßen Händen in den Leichensack gehievt - ein Jahr später verunglückte er auf dem Weg zu einem Vortrag über Ötzi tödlich mit dem Auto. Bergführer Kurt Fritz hatte Ötzis Gesicht aus dem Eis geholt - er stürzte in eine Gletscherspalte. ORF-Reporter Rainer Hölzl hatte gefilmt, wie die Mumie mit Pickel und Skistöcken aus dem Eis gekratzt wurde - er starb an einem Hirntumor. Helmut Simon, der Finder, stürzte 2004 tödlich bei einer Bergtour ab. Sieben Menschen, die mit Ötzi zu tun hatten, erwischte es eiskalt. Das kann doch kein Zufall sein! Doch, kann es: "So etwas klingt vielleicht gruselig, aber es gibt keine kausalen Zusammenhänge zwischen den Todesfällen und der Mumie", stellt der Archäologe Walter Leitner klar.

Der Mord

"Wenn es ein Verbrechen war, ist es hundertmal verjährt", dachte sich Alpin-Gendarm Anton Koler, als er vor 25 Jahren am Fundort war. Fast wäre Ötzi deshalb gleich beerdigt worden. Zehn Jahre nach dem Fund entdeckten Südtiroler Forscher dann doch noch eine Pfeilspitze in Ötzis Rücken. Er ist ziemlich sicher ermordet worden, hinterrücks mit einem Pfeil. Raubmord schließen die Forscher aus, denn der Mann hatte noch seinen wertvollen Kupferpickel bei sich. Walter Leitner sagt, der 45 Jahre alte Ötzi könnte ein geschasster Dorf-Chef gewesen sein, den eine jüngere Generation loswerden wollte. Offenbar wurde er bei einer Rast überrascht. Seinem Mageninhalt nach hatte er kurz vor seinem Tod noch fettreich gegessen.

Das Erbe

Ötzi sieht ziemlich tot aus, aber das ist Ansichtssache. "Ötzi lebt", sagt Anton Koler, "und ich muss sagen, wir haben ein sehr gutes Einvernehmen." Damit der Eismann noch lange weiterlebt, strengen sich Wissenschaftler, Tourismus-Experten und die Unterhaltungsindustrie ordentlich an. Der Name Ötzi ist nicht geschützt, also kann jeder mit Ötzi-Pizza oder Ötzi-Eis Geschäfte machen. In Südtirol haben gerade die Dreharbeiten für den Kinofilm "Iceman" begonnen, in der Titelrolle wird Jürgen Vogel zu sehen sein. Aus der Sicht von Regisseur Felix Randau und Produzent Jan Krüger eine Idealbesetzung: "Weil er so was Physisches hat und dabei Intelligenz ausstrahlt." Der IQ des Eismannes ist übrigens noch nicht erforscht. Archäologe Leitner ist überzeugt: "Wir werden den Mann aus dem Eis nie ganz entschlüsseln." Manche Beteiligte finden den Ötzi-Rummel längst ziemlich uncool. "Ich bin nicht dafür, dass man immer alles weiter ausschlachtet", sagt Hüttenwirt Markus Pirpamer. Und Erika Simon weiß zwar, dass sie der Wissenschaft mit dem Fund einen Dienst erwiesen hat, ihren Nerven allerdings nicht unbedingt. Jahrelang prozessierte sie, bis sie und ihr Mann endlich als Finder anerkannt wurden und vom Land Südtirol 175 000 Euro Finderlohn bekamen. "Wenn wir damals nur zehn Meter weiter rechts oder links gegangen wären", seufzt sie, "wäre uns der ganze Rummel erspart geblieben."

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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