Flüchtlinge:Furcht im Schlauchboot

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Wie fühlen sich Flüchtlinge, wenn sie das Mittelmeer überqueren? Hamburger Schüler ergründen Fragen wie diese in einer Simulation. Und am Ende stehen sie machtlos vor dem Schreibtisch eines deutschen Beamten.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Die Klasse 8c der Stadtteilschule Helmuth Hübener aus Barmbek-Nord erscheint pünktlich um halb zwölf zur Flucht. Paul Steffen von der Jungen Akademie für Zukunftsfragen fängt gleich an mit seinem Einführungsvortrag: "Wir machen einen Unterricht, der anders sein wird als Unterricht", sagt er, ehe er ein paar Antworten auf Grundsatzfragen gibt. Wer sind die Flüchtlinge, von denen die Medien so viel berichten? Woher kommen sie? Wovor flüchten sie? Dann geht es rüber in den Leo-Lippmann-Saal der Hamburger Finanzbehörde am Gänsemarkt, in dem alles bereitsteht für das Abenteuer: die Pappkartons, der Sternenhimmel, der Lastwagen-Container, das Schlauchboot.

Der Umstand, dass viele Menschen wegen Krieg, Unterdrückung und Not ihre Heimat verlassen müssen, ist eine anhaltende Tatsache. Und die Frage ist groß, wie man mehr Verständnis für die Flüchtlinge und deren Situation in die Köpfe der Einheimischen bekommt. So ein Abenteuer, wie es die 8c zuletzt hinter sich gebracht hat, soll dazu einen Beitrag leisten - wobei dieses Abenteuer keine echte Flucht ist. Sondern die Teilnahme an der interaktiven Wanderausstellung "Der Weg", welche die evangelische Jugendkirche mit der Hamburger Landesanstalt für politische Bildung noch bis zum 14. Juli mitten in der Hansestadt eingerichtet hat, in der Finanzbehörde am Gänsemarkt eben, ganz in der Nähe von Binnenalster und alltäglichem Einkaufsbetrieb.

Man kann streiten über so einen kleinen Rundgang durch schweres Themengebiet. Wird die Not der Flüchtlinge nicht zur Spielerei verniedlicht bei so einer Ausstellung? "Eigentlich nicht", findet Paul Steffen, dessen Junge Akademie mit Jugendkirche und dem internationalen Menschenrechts-Netzwerk "Citizen of the World" die Idee zur Ausstellung entwickelt hat. "Wir sagen ja explizit, dass das nur ein Ausschnitt ist. Man kann eine Flucht nicht simulieren. Aber man kann sich auf eine andere Art damit verbinden."

Die Ausstellung verzichtet auf drastische Inszenierungen. Die Stellwände sind mit eindringlichen Schwarz-Weiß-Bildern des niederländischen Flüchtlings-Fotografen Ad van Denderen bespannt. Die Schüler bekommen fiktive Pässe, in denen echte Flüchtlingsbiografien stehen. Jugendliche Teamleiter führen sie von Station zu Station und geben ihnen kleine Aufgaben. Sie sollen zum Beispiel auf dem harten Boden Schlafstätten aus Kartons bauen, am Himmel die Sternbilder zur Orientierung deuten oder vor einem unfreundlichen Aufseher Kaffeebohnen sortieren, um Geld zu verdienen für die weitere Flucht. Eine Station deutet die beklemmende Enge eines Transport-Containers an. An der nächsten sitzen die Schüler in einem Schlauchboot zwischen den großflächigen Fotos einer aufgeworfenen See. Und am Ende stehen sie vor dem Schreibtisch eines deutschen Beamten, den Paul Steffen mit überzeugender Freudlosigkeit spielt.

"Die Schüler kriegen ein anderes Gefühl für die Ohnmacht, die man hat, wenn man nicht weiß, was als Nächstes kommt", sagt er. Und Christian Brand, Lehrer der 8c, findet die Ausstellung "echt hilfreich", um den Jugendlichen anschaulich zu machen, was Flucht bedeutet. Er hat festgestellt, dass sie das brauchen, obwohl viele von ihnen Eltern haben, die selbst als Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Die Eltern haben sich wohl zu weit entfernt von ihrer eigenen Geschichte. "Zu Hause", sagt Brand, "wird darüber gar nicht gesprochen."

Kurze Nachbesprechung im Vorraum. Ein Mädchen berichtet von der Station mit dem Schlauchboot: "Wir waren zehn Minuten drin und hatten schon Schmerzen." Ein anderes sagt: "Ich hab' das mit den Sternbildern nicht hingekriegt." Ein Junge meldet sich: "Ich fand's ziemlich gemütlich". Wenig später brechen sie auf. Halb zwei. Die Flucht ist zu Ende.

© SZ vom 05.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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