Festumschlungen in den Tod:Chronik einer unausweichlichen Katastrophe

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Bewusstlose Piloten und letzte Rettungsversuche: Zwei Stunden fliegt der Autopilot die Maschine der Helios Airlines - doch nichts kann die 121 Menschen an Bord vor dem Tod bewahren.

Christiane Schlötzer und Jens Flottau

Es gibt da diesen gut 30 Jahre alten Spielfilm. "Flug in Gefahr" lautet der deutsche Titel. Spannungsspezialist Arthur Hailey hat das Buch dazu geschrieben. Zwei Piloten einer Passagiermaschine fallen während eines Flugs in Ohnmacht, weil sie verfaulten Fisch gegessen haben.

Ein Passagier steuert, hochdramatisch, die Maschine schließlich sicher zu Boden. So passiert es auf der Leinwand, in einem Luftfahrtmärchen.

Die Wirklichkeit ist brutaler. Auch auf dem Flug Nummer ZU522 der Helios Airline versuchte womöglich noch eine nicht dazu ausgebildete Person, die Maschine vor dem Absturz zu bewahren, nachdem die zwei Piloten der Boeing 737 wegen Sauerstoffmangels das Bewusstsein verloren hatten.

Direkt neben dem Cockpitwrack fanden griechische Rettungskräfte die Leiche einer Stewardess, was die Behörden in Athen am Montag spekulieren ließ, die Frau könnte versucht haben, das führunglose Flugzeug wieder auf Kurs zu bringen. Dies wird auch von den Beobachtungen zweier griechischer Kampfpiloten gestützt, die mit ihren F-16 Jets die Unglücksmaschine etwa 40 Minuten lang begleiteten.

"Sie sahen zwei Menschen im Cockpit, die womöglich versuchten, wieder die Kontrolle über das Flugzeug zu gewinnen", sagte der griechische Regierungssprecher Theodoros Roussopoulos später.

Der Albtraum schlechthin

Was sich wirklich an Bord des Horror- Flugs von Larnaka nach Athen abgespielt hat, ist bislang nicht völlig geklärt. Gewiss ist nur, dass die Maschine am Sonntag um 9.00 Uhr zyprischer Zeit am Flughafen Larnaka mit 115 Passagieren und sechs Besatzungsmitgliedern startete.

Um 9.37 Uhr erreichte sie griechischen Luftraum. Eine halbe Stunde später verliert der Kontrollturm in Athen den Kontakt zum Cockpit der Boeing. Die Athener Flugüberwacher kontaktieren daraufhin ihre Kollegen in Larnaka. Die teilen mit, dass die Piloten schon im zyprischen Luftraum über Probleme mit der Klimaanlage geklagt hätten.

Deshalb habe die Maschine auch ihre Reiseflughöhe nicht sofort eingenommen. Dann aber habe sich alles normalisiert, sagen sie, was offenbar ein Irrtum war. Um 10.25 Uhr informieren die Athener Kontrolleure das griechische Verteidigungsministerium darüber, dass Flug ZU522 nicht mehr antwortet.

Seit den Olympischen Spielen in Athen vor genau einem Jahr gibt es eine Standardprozedur für den Schutz des Luftraums über der griechischen Hauptstadt. Um 10.55 stiegen daher zwei griechische Kampfjets auf. Sie sichten die zyprische Maschine über der griechischen Insel Kea. Das ist nur 40 Kilometer vom griechischen Festland und nur rund 60 Kilometer vom Stadtrand der Fünf-Millionen-Metropole Athen entfernt.

Was die Kampfpiloten im Cockpit der Boeing erkennen können, lässt die Katastrophe schon ahnen. Sie können den Piloten nicht entdecken. Der Copilot hängt vornübergebeugt über den Armaturen. Die Jet-Piloten können auch die Atemmasken sehen, die im Flugzeug von der Decke baumeln. Sie fallen automatisch herunter, wenn in großer Höhe der Luftdruck in der Kabine plötzlich fällt und die Atemluft so dünn wie auf dem Mount Everest wird.

Obwohl führungslos, nimmt die Maschine strikten Kurs auf den Flughafen Athen. Dies ist offenbar möglich, weil der Autopilot eingeschaltet ist. Ohne dass die militärischen Luftbegleiter dies verhindern können, stürzt die Boeing schließlich um 12.05 etwa 40 Kilometer nördlich vom Athener Flughafen in unbewohntes, schwer zugängliches bergiges Gebiet.

Wahrscheinlich war zu diesem Zeitpunkt schon keiner der 121 Menschen an Bord mehr bei Bewusstsein. Erste Autopsieergebnisse zeigen, dass die toten Körper "tiefgefroren" waren, wie ein Vertreter des griechischen Verteidigungsministeriums es beschrieb. "Selbst jene, die stark verbrannt waren", sagt der Mann. Der Albtraum schlechthin.

Der Fotograf der Agentur Reuters, Giannis Behrakis, sah an der Absturzstelle Dutzende von Körpern, die in ihren Sitzen festgeschnallt waren, mit Resten von Atemmasken über ihren Gesichtern. "Zwei verbrannte Körper hatten noch die Arme umeinander geschlungen", sagte der Augenzeuge.

Es gehört zu den immer wiederkehrenden Begleitumständen von Flugzeugabstürzen, dass in den ersten Tagen viel mehr Fragen gestellt werden, als seriös zu beantworten sind, da es nun mal in der Luft außerhalb der Maschine keine Zeugen gibt. Nur ganz wenige Informationen sind in dieser Phase wirklich nachprüfbar, und es dauert in der Regel Jahre, bis die Untersuchungsbehörden einen Abschlussbericht vorlegen können.

Darin ist dann auch meist nicht von einer tatsächlichen, sondern nur wahrscheinlichen Absturzursache die Rede, und manchmal müssen die Angehörigen damit leben, dass sie nie erfahren werden, warum ihre Verwandten und Freunde ums Leben gekommen sind.

In diesem Fall könnte es sein, dass am Ende ausgerechnet die verstärkten Cockpit-Türen, die nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon in Linienmaschinen eingebaut werden mussten, ein Faktor waren, der die Katastrophe beförderte. Ganz offensichtlich hatten die Piloten irgendwo zwischen Larnaka auf Zypern und Athen keine Sauerstoffversorgung mehr im Cockpit.

Wenn sie sich an die Vorschriften gehalten haben, dann war die Tür zur Kabine verriegelt. Sie konnte von außen nicht geöffnet werden, zumindest nicht schnell genug, um den beiden zu helfen.

"Als ich hörte, dass eine zyprische Maschine abgestürzt ist, dachte ich sofort, das ist ein Flugzeug der Helios", sagte ein zyprischer Journalist. Der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, berichtete, dass vor etwa einem Monat ihm ein Freund gesagt habe, ein Helios-Flug habe nach dem Start in Paphos auf Zypern umkehren müssen, weil es Probleme mit der Klimaanlage gab.

Auch von einem Onkel eines der getöteten Piloten will der Journalist gehört haben, dass ein anderer Pilot sich geweigert habe, mit der Unglücksmaschine zu fliegen, da sie öfter technische Probleme hatte. Der widerspenstige Pilot sei dann durch einen anderen ersetzt worden.

Auf Zypern hieß es, die Maschine habe schon in den vergangenen Wochen Probleme mit der Klimaanlage gehabt. Das Flugzeug hat die Kennung 5D-DBY und ist von 1999 bis April 2004 mit der Registrierung D-ADBQ für die deutsche Fluggesellschaft DBA geflogen.

Die DBA betonte, die Lufthansa Technik habe in ihrem Auftrag vor der Übergabe an Helios einen so genannten C-Check durchgeführt, bei dem das Flugzeug auf Mängel genau untersucht wird.

Ob die Probleme mit der Klimaanlage später auftauchten, ist noch unklar. Damit stellt sich die Frage, warum die 1999 als erste private Airline Zyperns gegründete Gesellschaft ihre insgesamt vier Maschinen nicht besser wartete. Helios Generalmanager Demetris Pantazis gab eine gewundene Erklärung ab. "Wir können nicht sagen, dass die Maschine dieselben Probleme hatte wie zuvor, weil wir noch nicht wissen, was das Problem wirklich war."

Der zyprische Minister für Kommunikation, Haris Thrasou, behauptete ähnlich ausweichend, mit der Maschine habe es vor dem Start in Larnaka keine Probleme gegeben, trotz aller kursierenden Berichte über Pannen. Auch die zyprischen Autoritäten stehen am Pranger, sollte sich herausstellen, dass die Kontrollen für den Billigflieger der Firma Libra Holidays Group zu lax waren.

Die Firma soll trotz eines Eigentümerwechsels vor einem Jahr weiter in zyprischem Besitz sein, auch wenn sie in London registriert ist, wo viele Zyprier leben. Sie bediente verschiedene Ziele in Europa. Die Unglücksmaschine sollte nach einem Stop in Athen nach Prag weiterfliegen. Auf einer Internetseite preist Helios seinen vornehmlich zyprischen Kunden "billige Ferien" an.

Es müssen ganz außergewöhnliche Umstände gewesen sein, die das Flugzeug in seine verheerende Lage gebracht haben. Damit die Menschen an Bord in Flughöhen von bis zu 12 Kilometern normal atmen können, wird der Kabinendruck künstlich erhöht.

Alle Fluglinien weisen vor dem Start in den Sicherheitshinweisen darauf hin, was zu tun ist, wenn der Druck wegen eines technischen Problems abfällt: Aus der Kabinendecke fallen Sauerstoffmasken, die sich jeder Passagier vor den Mund schnallen soll. Auch die Piloten haben solche Masken griffbereit.

Medizinischen Tests zufolge werden Menschen in großer Höhe bei plötzlichem Druckverlust nach rund 15 Sekunden bewusstlos, eigentlich genug Zeit, um sich eine Maske zu schnappen. Ein Vorgang, den Piloten erst recht beherrschen.

Der nächste Schritt liegt auch auf der Hand: Der Flugkapitän muss das Steuerhorn nach vorne drücken und die Maschine so schnell wie möglich auf eine Höhe von 10.000 Fuß oder gut 3000 Meter hinunter bringen. Dort reicht der Druck der Umgebungsluft aus, um zu überleben. Doch das haben sie nicht mehr geschafft.

Und das ist mysteriös, wie auch Experten der Pilotengewerkschaft "Cockpit" betonen. "So ein Druckabfall kommt weltweit einmal pro Woche in einem Flugzeug vor und ist absolut beherrschbar", sagt Markus Kirschneck, Sprecher der Vereinigung Cockpit.

Es gebe schließlich zwei getrennte Sauerstoffsysteme in den Maschinen, eines für die Pilotenkabine und eines für die Passagiere, ein Druckabfall alleine sei deshalb an sich noch kein Absturzgrund. "Wir Piloten trainieren einen solchen Vorfall jedes Jahr im Simulator", fügt er hinzu.

Bis auf den deutschen Piloten und eine vierköpfige armenische Familie stammten denn auch alle Passagiere auf dem Unglücksflug aus Zypern. Die Insel im Mittelmeer macht sonst nur Schlagzeilen, weil sie seit 1974 in einen griechischen und einen türkischen Teil geteilt ist, und weil dieser alte Konflikt so schwer zu lösen ist, obwohl Zypern ein so kleines Land ist, mit nur 200.000 Einwohnern auf der türkischen und 800.000 auf der griechischen Seite.

Weil Zypern so klein ist, kennt fast jeder jemanden, den es zu betrauern gilt. "Mindestens 5000 Leute haben einen Verwandten verloren, und rechnet man die Menschen dazu, die einen Freund in der Maschine hatten, dann sind sicher zehn Prozent der zyprischen Bevölkerung betroffen", sagte der erwähnte zyprische Journalist der SZ.

Trauer und Wut

Das zyprische Staatsfernsehen RIK zeigt Bilder weinender und verzweifelter Menschen am Flughafen von Larnaka. "Fünf! Fünf Menschen musste ich heute abholen", sagt eine schluchzende Frau. "Alle meine Engel sind weg", klagt eine andere Trauernde, die ihren Sohn, ihre Schwiegertochter und ihren Enkel verlor.

"Schwarze Sonne über Zypern" und "Allerheilige Maria, warum?" titelten zyprische Zeitungen am Tag Mariä Himmelfahrt, der in Zypern wie in Griechenland ein Festtag ist. Die zyprische Regierung ordnete drei Tage Staatstrauer an, die griechische einen.

In die Trauer mischt sich Wut. "Diese Maschine war ein fliegender Sarg. Ich will, dass die Verantwortlichen hart bestraft werden", sagte ein Mann im Fernsehen. "Mörder, Mörder", schrien Verzweifelte auf dem Larnaka-Flughafen die Helios-Angestellten an. Die zeigten sich noch zwölf Stunden nach dem Unglück unfähig, eine aussagefähige Passagierliste vorzulegen.

So entstand offenbar auch die Information, an Bord hätten sich 48 Kinder einer Fußballschule aus dem zyprischen Limassol befunden. Das griechische Gesundheitsministerium sprach von nur 21 toten Kindern.

Dass ein Flugzeug mit angeschaltetem Autopilot fliegt, während die Besatzung ohnmächtig ist, kommt extrem selten vor. Der letzte Horrorflug dieser Art fand im Jahr 1999 statt. Damals waren fünf Menschen an Bord eines Businessjets bewusstlos, darunter der Golf-Star Payne Stewart. Die Maschine flog quer durch Nordamerika, bis sie in South Dakota wegen Treibstoffmangels abstürzte.

Helios musste am Montag auf alle Flüge verzichten, nachdem sich erst das Flugpersonal und dann Passagiere in Larnaka weigerten, eine weitere Maschine der Gesellschaft zu betreten.

© SZ vom 16.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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