Entführung in Sachsen:Schreckliche Gewissheit

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Anneli, die Tochter eines Unternehmers, wurde entführt und getötet. Wer ist der Täter?

Von Jens Schneider und Anne Kostrzewa

Es sollte ein Abendspaziergang mit dem Familienhund werden, wie Anneli-Marie R. ihn schon oft gemacht hatte. Die 17-Jährige nahm ihr Fahrrad und führte den kleinen Beagle hinaus auf die Felder, die ihren Wohnort nahe Meißen umgeben. Irgendwo dort, auf einem Feldweg zur Bundesstraße 101, traf Anneli-Marie am Donnerstagabend ihre Entführer. Tagelang suchen 1200 Einsatzkräfte fieberhaft nach der Gymnasiastin. Fünf Tage nach ihrem Verschwinden ist es nun traurige Gewissheit: Anneli-Marie R. ist tot. Am Montagabend fanden Ermittler der Kriminalpolizei bei Meißen ihre Leiche.

Bereits am Sonntag hatte die Polizei einen 39-jährigen Tatverdächtigen festgenommen, am Tag darauf fasste die Polizei einen 61-Jährigen aus Dresden. Er soll den entscheidenden Hinweis gegeben haben, der die Ermittler zu der Leiche führte. Gefunden wurde sie auf einem Feld, direkt hinter einem leer stehenden Bauernhof in Lampersdorf. Der kleine Ort liegt in der Nähe der Porzellanstadt Meißen. In einem Ortsteil der Nachbargemeinde wohnt Anneli-Maries Familie. Der Hergang der Tat, soweit er bislang bekannt ist, gibt der Polizei Rätsel auf. Anfangs geht es offenbar darum, Lösegeld zu erpressen, dann aber hätten die Täter "keinerlei Bemühen mehr gezeigt, an das Geld zu kommen".

Von einem Hubschrauber aus filmt die Polizei den Fundort der Leiche. Ein Tatverdächtiger soll den Tipp gegeben haben, dort zu suchen. (Foto: Robert Michael/imago)

Die Polizei geht von einem "Verdeckungsmord" aus - es heißt, dass sich die mutmaßlichen Täter nicht maskiert hätten, die Entführte hätte sie also später erkennen können. Bei der Pressekonferenz in der Polizeidirektion in der Dresdner Innenstadt schildern die Ermittler auffallend leise, was seit Anneli-Maries Verschwinden am Donnerstagabend geschehen ist. Kurz nachdem die 17-Jährige mit ihrem Hund das Haus verlassen hat, bekommt ihr Vater einen Anruf vom Handy der Tochter. Als der Bauunternehmer zurückruft, geht sie aber nicht ran, sondern einer der Entführer. Er sagt, er habe Anneli-Marie in seiner Gewalt und fordert 1,2 Millionen Euro. Im Hintergrund hört der Vater Anneli-Marie schreien - das letzte Lebenszeichen von seiner Tochter. Sofort macht sich der Vater auf die Suche. Nur wenige Kilometer vom Haus der Familie entfernt, in einem Graben an der Verbindungsstraße zwischen der Bundesstraße 101 und Luga, findet er das Fahrrad. Daran angebunden ist der Hund, er lebt. Am Rad finden die Fahnder später DNA-Spuren des 39-jährigen Tatverdächtigen. Während der Vater nach der Tochter sucht, schaltet seine Frau bereits die Polizei ein.

Am frühen Freitagmorgen, wenige Stunden nach Anneli-Maries Verschwinden, führt ein Spürhund die Ermittler zu einem Bauernhof in Luga. Ein Sondereinsatzkommando umstellt das Gelände, anschließend stürmen 60 Beamte den Hof, durchkämmen die Gebäude, durchsuchen jeden Winkel. Doch das Mädchen bleibt verschwunden, es fehlt weiterhin jede Spur.

Unterdessen rufen die Entführer erneut bei den Eltern an, diesmal mit dem eigenen Handy. Sie fordern das Lösegeld per Online-Überweisung ein, weitere Erklärungen geben sie nicht. Die Polizei hört mit, verfolgt das Signal per Handy-Ortung nach Bayern zurück. Eine Stimmenanalyse ergibt, dass einer der Täter wohl aus dem schwäbischen Raum stammt, seine Stimme aber ins Tschechische zu verfälschen versucht. Nach dem Telefonat am Freitag, sagt Polizeipräsident Dieter Kroll, habe man auf weitere Anweisungen der Täter gewartet: "Das war die schlimmste Situation: verdammt sein zu warten."

(Foto: SZ-Grafik)

Es ist das letzte Mal, dass sich die Entführer melden. Auch deshalb zweifeln die Ermittler daran, dass es ihnen nur um Geld geht. "Die Planungstiefe und Voraussicht der Täter reichte nicht sehr weit", beurteilt Kriminaloberrat Detlef Link das Vorgehen der Täter, Kroll bezeichnet es als "verbrecherisch dilettantisch". Eltern und die Polizei entscheiden sich dann am Wochenende, an die Öffentlichkeit zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt ermittelt die Staatsanwaltschaft bereits wegen erpresserischen Menschenraubes. Der Vater arbeitet als Bauunternehmer, die Familie ist wohlhabend und hoch angesehen. In einem öffentlichen Brief bitten die Eltern um Hinweise aus der Bevölkerung. Außerdem erklären sie sich bereit, das Lösegeld zu bezahlen: "Die Entführer sollen wissen, dass wir die angezeigten Forderungen erfüllen werden, um unser Kind bald in die Arme nehmen zu können."

Ein Foto des Mädchens geht durch die Medien. Nach Angaben der Polizei trug es am Abend seines Verschwindens ein geringeltes T-Shirt und eine kurze blaue Jeans.

Bis Sonntagabend gehen bei der Polizei mehr als 50 Hinweise ein. Nun nehmen die Ermittlungen rasant an Fahrt auf - und auch die DNA-Spuren am Fahrrad werden ausgewertet. Sie können einem polizeibekannten, aber nicht vorbestraften Tatverdächtigen aus Bayern zugeordnet werden. Das passt auch zu den Ergebnissen der Handy-Ortung. Außerdem hatten mehrere Zeugen von einem auffälligen grauen BMW berichtet, der regelmäßig in der Ortschaft gesehen wurde, in der die Familie wohnt. Offenbar ist es das Auto, in dem die Schülerin verschleppt wurde.

In Bamberg nehmen die Beamten am Sonntag einen 39-Jährigen fest, zu ihm gehören die DNA-Spuren. Wie die Bild-Zeitung berichtet, ist der Mann offenbar verwandt mit der Besitzerin jenes Hofes in Klipphausen, bei dem am Dienstag die Leiche gefunden wird. Seit zwei Wochen steht der Hof im Internet zum Verkauf.

Die Polizei durchsucht nun mehrere Gebäude im Gebiet Klipphausen südlich von Meißen. Ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera kreist über dem Ort. Die Fahnder lassen sogar einen Container mit Bauschutt auskippen - keine Spur von Anneli-Marie. Unter anderem durchsuchen die Ermittler einen leer stehenden Dreiseithof in Lampersdorf an der Baeyerhöhe, gut zehn Kilometer von der Stelle entfernt, an der Anneli-Marie wohl gekidnappt wurde. An diesem Hof werden die Beamten später ihre Leiche finden. Ob die 17-Jährige während dieser ersten Durchsuchung bereits dort war und noch lebte, ist unklar.

Weitere Spuren führen die Ermittler nach Dresden. Am frühen Montagmorgen wird ein 61-jähriger weiterer Tatverdächtiger festgenommen. Er habe sich beim Verhör auf ein Geständnis eingelassen, sagt der leitende Staatsanwalt Erich Wenzlick. "Es war ein Geständnis, das den eigenen Tatbeitrag in einem milderen Licht erscheinen ließ." Motiv sei sicher auch Habgier gewesen. Im Hintergrund hätten Schulden gestanden. Der 61-Jährige sei in Dresden als Selbstständiger tätig, sein Komplize soll Medienberichten zufolge arbeitsloser Koch sein. Gegen beide Verdächtige wurde Haftbefehl erlassen. Im Verhör gibt der 61-Jährige auch den entscheidenden Hinweis, wo Anneli-Marie sein könnte. Sofort wird die Suche in Klipphausen intensiviert. Erneut durchforsten Suchtrupps das Gebiet rund um den Dreiseithof, Hubschrauber kreisen, Spürhunde laufen über den Hof. Am Abend dann der Schock: Die Beamten finden eine Frauenleiche. Noch in der Nacht werden Anneli-Maries Eltern an den Fundort geholt. Dort müssen sie ihre Tochter identifizieren.

Ende einer Suche: Die Leiche von Anneli wurde am Dienstag gefunden. (Foto: dpa)

Am Dienstagmorgen beginnt die Obduktion. Es steht schon fest, dass Anneli-Marie bereits am Freitag tot war, einen Tag nach der Entführung. Anzeichen für ein Sexualverbrechen gebe es nicht. "Die Ermittlungen beginnen jetzt erst richtig", sagt Polizeipräsident Kroll. Was die Ermittler bislang wissen: Mindestens einen der Täter soll das Mädchen vom Sehen gekannt haben. Zudem sollen sie sich auf Facebook über die 17-Jährige informiert haben. Als Motiv für den Mord sehen die Ermittler die Angst der Täter, von ihr nach einer Freilassung identifiziert zu werden.

Rund 80 Entführungen gibt es laut Kriminalstatistik jedes Jahr in Deutschland, davon werden im Schnitt 20 Entführungsopfer kurz nach der Verschleppung wieder freigelassen. Eine Entführung sei ein "Hochleistungsverbrechen", sagt Frank Rosenlieb, Geschäftsführer des Instituts für Krisenforschung der Universität Kiel. Viele Täter unterschätzten den Widerstand ihrer Opfer und die körperliche und psychische Belastung einer Entführung. Deshalb sei bei Kindern die Gefahr generell höher, dass ein Täter zu Messer oder Waffe greife. Neunzig Prozent aller Entführungen werden aufgeklärt. Für einige der Opfer ist es dann aber bereits zu spät.

© SZ vom 19.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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