Die Sonne senkt sich hinter dem Brandenburger Tor, eine Frau im Glitzerkleid spielt vor einer Touristengruppe Saxofon, und Ralph Boes erzählt, dass seine Beerdigung schon geregelt sei. Testament und solche Dinge - alles organisiert. Seit 75 Tagen hat der 58-Jährige nichts mehr gegessen, sagt er.
Seitdem sitzt er jeden Abend an einem Tisch mit Schachbrettmuster, einer Karaffe Wasser, zwei Gläsern und mit weiten Kleidern auf dem Pariser Platz mitten in Berlin. Jedenfalls, wenn es nicht regnet oder er nicht im Krankenhaus ist. Aus dem wurde er gerade erst entlassen wegen einer Herzmuskelverkrampfung, erzählt er, wahrscheinlich wegen der fehlenden Nahrung. 18 Kilogramm hat er bisher verloren. Aber er werde durchhalten. Wie lang? Das wisse er nicht.
Er mag es nicht, wenn man seine Aktion Hungerstreik nennt
Ralph Boes protestiert gegen Hartz-IV-Sanktionen und für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Hauptberuflich, wie er sagt, seine letzte Stelle als Manager einer Seniorenresidenz verlor er 2005, seitdem ist er Aktivist. Er mag es nicht, wenn man seine Aktion als Hungerstreik bezeichnet. "Ich werde gehungert", sagt er. Denn wer das sogenannte Arbeitslosengeld II bezieht, der muss sich an Auflagen des Jobcenters halten.
Auflagen, die Boes für unzumutbar hält. Wer etwa eine zumutbare Arbeit verweigert, bekommt Geld gestrichen. Das betrifft in Deutschland weniger als fünf Prozent der Bezieher. Ralph Boes ist einer von ihnen. Seit zwei Jahren ist er vollsanktioniert, weil er absichtlich alle Jobs ablehnt. Das heißt: Er bekommt kein Geld, keine Wohnung, keine Krankenversicherung. Nur Essensgutscheine würde er kriegen. Aber die Papiermarken hat er im Jobcenter aus Protest verspeist.
Die Situation hat Boes selbst provoziert, um gegen das seiner Meinung nach menschenunwürdige System kämpfen zu können. Die Aktionen und sein Lebensunterhalt werden durch einen Unterstützerkreis finanziert, genau wie die Gerichtsprozesse.
10 Jahre Hartz IV:Schikane per Gesetz
2005 ist das Hartz-IV-Gesetz in Kraft getreten. Seitdem hat die Armut zugenommen. Es überwacht und betrachtet Millionen Menschen als potenzielle Faulpelze - und passt nicht zu einem Staat, der sich Sozialstaat nennt.
Denn gegen jede Sanktion hat er geklagt, erfolglos, bis Mai 2015. Da leitete ein Sozialrichter ein Gutachten ans Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe weiter. Das Gutachten hatte das Büro des ehemaligen Bundesrichters und Linken-Abgeordneten Wolfgang Nešković erstellt. Die Sanktionierungen, steht in dem Papier, seien unvereinbar mit der Menschenwürde und verfassungswidrig. Seit Anfang Juni liegt das Gutachten in Karlsruhe zur Prüfung; wann darüber entschieden wird, ist offen.
Ursula Kassner, Allgemeinmedizinerin an der Berliner Charité, sagt, nach 75 Tagen ohne feste Nahrung wird es "kritisch". Auch wenn der ehemalige Krankenpfleger medizinisch betreut wird und nicht nur Wasser trinkt. Im Jobcenter in Berlin-Mitte ist man ebenfalls besorgt. "Aber wir müssen uns an die Vorschriften halten, und er nimmt die Sanktionen in Kauf", sagt ein Sprecher. Um den Tisch begutachten Touristen die Flyer zur Aktion. "Das System zieht Kraft aus der Todesangst der Menschen", sagt Boes. "Die muss ich überwinden, um zu kämpfen." Bis zum Ende? "Das werden wir sehen. Aber ich will nicht sterben. Ich will gewinnen."