Berlin:Alles Lüge

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Proteste nach der angeblichen Vergewaltigung im Januar 2016. (Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)

Der "Fall Lisa" um ein angeblich vergewaltigtes russlanddeutsches Mädchen hatte hohe politische Wellen geschlagen. Selbst Moskau meldete sich zu Wort. Nun suchte ein Berliner Gericht nach der Wahrheit.

Von Verena Mayer, Berlin

Den "Fall Lisa" gibt es in sehr unterschiedlichen Versionen. Es geht entweder um kriminelle Flüchtlinge, um Behördenversagen, Vertuschung auf höchster politischer Ebene oder aber um eine trostlose Kindheit in Berlin. Nur eine Version ist richtig, was den Fall zusätzlich kompliziert macht. Da wäre einmal die Geschichte des Mädchens: Lisa kommt aus einer Familie von Russlanddeutschen und ist 13 Jahre alt, als sie Anfang Januar 2016 auf dem Weg zur Schule in Berlin-Marzahn verschwindet. Als sie nach 30 Stunden wieder auftaucht, erzählt Lisa ihren Eltern, sie sei von drei Flüchtlingen verschleppt, in einer Wohnung festgehalten und mehrmals vergewaltigt worden.

Es ist der Höhepunkt der Flüchtlingskrise, der Fall schlägt international Wellen, vor allem in Russland. Dort wird in den Medien und sozialen Netzwerken Lisas Geschichte in folgender Version verbreitet: Deutschland werde von einer Welle der Gewalt überrollt, die von Flüchtlingen ausgehe. Hunderte Russlanddeutsche demonstrieren daraufhin, rechte Gruppen hetzen gegen Flüchtlinge, Eltern haben Angst, ihre Kinder morgens allein aus dem Haus gehen zu lassen. Diese Geschichte wird immer größer, auch dann noch, als die Berliner Staatsanwaltschaft herausfindet, dass Lisas Version gar nicht stimmen kann. Das Mädchen hatte keine Verletzungen, bei der Polizei hat es vier verschiedene Geschichten von seinem Verschwinden erzählt. Irgendwann gestand Lisa, dass sie Schulprobleme hatte und große Angst, nach Hause zu den strengen Eltern zu gehen. Stattdessen war sie bei einem Freund untergeschlüpft.

Das alles hält den russischen Außenminister Sergej Lawrow allerdings nicht davon ab, seine Version des Falles zum Besten zu geben. Lawrow schaltet sich Ende Januar 2016 höchstpersönlich ein und beschuldigt die deutschen Behörden, sie würden Probleme mit kriminellen Migranten vertuschen. Diplomatische Spannungen sind die Folge, der Fall Lisa wird zum Lehrbuchbeispiel für die Macht von Gerüchten und dafür, welche Kreise Fake News auf der ganzen Welt ziehen können.

Auch die Supermarktkette Real und die Deutsche Post filmen und identifizieren ihre Kunden

Der Wahrheit am nächsten kommt nun das Amtsgericht Tiergarten. Dort sitzt Dienstagmorgen Ismet S. auf der Anklagebank, Berliner mit türkischer Staatsbürgerschaft. Ein untersetzter Mann, 24 Jahre alt, mit weißem Hemd und kurzen Haaren. Sonst sieht man nicht viel von ihm, weil er sich die ganze Zeit eine Aktenmappe vor das Gesicht hält. Auf S. stießen die Ermittler, als sie im Fall Lisa das Handy des Mädchens auswerteten. Sie fanden darauf die Namen von zwei Männern, mit denen Lisa einige Monate vor ihrem Abtauchen Sex gehabt hatte. Ein 20-Jähriger entging der strafrechtlichen Verfolgung, weil er glaubhaft machen konnte, dass er dachte, Lisa sei schon 16 Jahre alt. Der zweite Mann war Ismet S. Er hatte mit Lisa schon länger über Whatsapp Kontakt, die beiden freundeten sich an und chatteten, sehr oft ging es dabei um Sex. Ende Oktober 2015 trafen sich die beiden schließlich mit einer Bekannten in der Wohnung von Ismet S. Es kam zu sexuellen Handlungen, die S. mit dem Handy filmte. Beides ist strafbar, sexuelle Handlungen mit Kindern unter 14 sind Erwachsenen verboten, auch wenn sie einvernehmlich geschehen. Und Ismet S. wusste genau, wie alt Lisa war.

Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Kindesmissbrauch und die Herstellung von Kinderpornografie vor. Der Gerichtssaal ist voll, zahlreiche Journalisten wollen das letzte Kapitel im Fall Lisa mitverfolgen, einige von ihnen sind aus Russland. Lisa selbst ist nicht gekommen, ihr Anwalt sagt nur, dass er nicht mit deutschen Medien spreche, weil diese auf dem "Mädchen herumgetreten" hätten. Bevor Ismet S. seine Schuld einräumt und das Gericht eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verhängt, stellt der Richter fest, dass im Fall Lisa "Tatsachen aus der Intimsphäre" erörtert würden, die außerhalb des Gerichtssaals niemanden etwas angehen. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen - das wäre wohl im gesamten Fall Lisa das Beste gewesen.

© SZ vom 21.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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