Amoklauf in München:"Das alles ist so absolut unvorstellbar"

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Warum? Und warum hier? Die Menschen am Olympiaeinkaufszentrum stellen sich an diesem Samstag viele Fragen - manche sind dem Schützen nur knapp entkommen.

Von Lars Langenau

Der Morgen danach. Hanauer Straße, Ecke Pelkovenstraße. Dutzende Kamerateams positionieren ihre Übertragungswagen an der Kreuzung, an der am Freitagabend die Schüsse eines 18-Jährigen mehrere Menschenleben forderte. Man hört italienisch, russisch, französisch, englisch, deutsch. In Sichtweite des McDonald's, in dem die Mordserie begann.

Am Freitagabend hatte die Polizei die Straße hier sofort abgesperrt, niemand kam rein. Im Nieselregen herrschte Chaos. Passanten, die von bewaffneten Beamten aus dem Sicherheitsbereich geführt wurden, schluchzten. Panik und Angst waren ihnen ins Gesicht geschrieben. Polizisten kontrollierten jede Person, zielten auf Anwohner, die sich über die Absperrbänder hinwegsetzten und in ihre Wohnung wollten. Eine Frau auf dem Fahrrad bettelte einen Beamten an, sie durchzulassen: Ihre 13-jährige Tochter sei allein in der Wohnung und habe schreckliche Angst. Sie müsse zu ihr.

Am Samstagmorgen kriecht die Sonne durch den Nebel. Die Nervosität der Polizisten ist professionellem Handeln gewichen. Nur wenige Anwohner gehen an die Absperrung. Manche holen ihre Autos ab, die sie gestern hier haben stehen lassen müssen. Ein Fotojournalist sitzt wieder da, wo er gestern Abend schon gesessen hat und schickt seine Bilder in die Welt. Er wohne hier um die Ecke, um 2 Uhr nachts sei er nach Hause gegangen, sagt er, und jetzt sei er eben wieder da.

"Das alles ist so absolut unvorstellbar"

Gabi Zöllner, eine blondierte Mittdreißigerin, ist noch immer fassungslos und weint, als sie von gestern erzählt. Die gebürtige Kölnerin, die seit 16 Jahren in München lebt, verteilt Kaffee an die Journalisten und Passanten. Am Abend habe sie gegen 18 Uhr nur kurz ihren Hund ausgeführt. Direkt am McDonald's vorbei, die übliche Runde. Ungläubig sagt sie: "Ich kann mir das alles gar nicht vorstellen. Wäre ich zehn Minuten vorher dagewesen, wäre ich mittendrin gewesen."

Die Gegend um das Einkaufszentrum sei ein bunt gemischtes Viertel, die Leute kämen in der Regel gut miteinander aus. "In Köln gibt es schlimmere Ecken." Bis Freitag habe sie sich mit ihren Kindern immer sicher gefühlt in München, "bin auch noch abends raus". Der Terror, sagt sie, sei immer so weit weg gewesen - und nun vor ihrer Haustür. "Das alles ist so absolut unvorstellbar." Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und sagt dann: "Ich habe dieses Jahr mehrere Wiesnreservierungen, aber das wird für mich psychologisch ein Problem, da hinzugehen." Allerdings dürfe man "die Angst nicht weitertransportieren, sonst kann man gleich alles absagen".

Okan O., 44, steht neben ihr und sagt, dass gestern Abend ein Bekannter von ihm erschossen worden sei. Ein türkischer Grieche. Er zeigt Fotos auf Facebook, geteilt von einem Bekannten, die einen jungen Mann zeigen, der in seinem Blut auf der Straße vor dem McDonald's liegt. Der Tote habe zwei Geschwister, es seien Drillinge. Eine Schwester sei wohl verletzt. Der Vater habe nach der Nachricht vom Tod des Sohnes einen Herzinfarkt erlitten. Überprüfen kann man seine Aussagen im Moment nicht, aber seine Betroffenheit, sein Schock unter dem er steht, den kann man nicht spielen.

"Warum?"

Ein älterer Türke hat eine Taufkerze in einer Glasvase dabei, die er nun am Aufgang der U-Bahn anzündet. Die Vase füllt er mit Steinen, damit sie nicht umkippt. Er habe sich verpflichtet gefühlt, sein Mitgefühl den Opfern und ihren Angehörigen zu zeigen, sagt er. Die Anwohnerin Gudrun R., 58, die in einer Nachbarstraße wohnt, hat neben die große weiße Kerze mehrere Teelichter und weiße Rosen gelegt. "Man fühlt sich so hilflos", sagt sie. Sie habe die Schüsse gehört und sich nur gedacht: "Lebt mein Gemüsehändler noch?"

Neben ihr steht Daron H., 44, ein Kurde, der auch hier ums Eck wohnt. Er hat ein einfaches Pappschild aufgestellt mit nur einem Wort: "Warum?" Er habe die ganze Nacht nicht schlafen können. Seine Augen füllen sich mit Tränen, als er sagt: "Wir müssen jetzt gemeinsam mit den Opfern sein." Gestern Abend sei er mit seinem dreieinhalbjährigen Sohn im Olympiaeinkaufzentrum gewesen, für den Wochenendeinkauf, dann habe er Schüsse gehört. Schnell habe er seinen Sohn nach Hause gebracht und sei dann wieder raus vor den Schnellimbiss. "Da lagen dann schon zwei Tote und zwei Verletzte. Ich kann Erste Hilfe und habe mich um einen gekümmert, der immer nur rief: Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben, aber ich sterbe."

Schnell sei die Polizei da gewesen, doch der Krankenwagen habe nach seinem Empfinden ewig gebraucht. Neben ihm sei ein verletztes Kind gewesen, so um die zehn, elf Jahre alt, ihm floss Blut aus dem Mund. Er habe an seinen eigenen Sohn denken müssen, den er nur so knapp habe in Sicherheit bringen können.

Daron H. sagt, es sei ihm völlig unwichtig, "ob das nun ein Amoklauf oder ein Terroranschlag war: Egal, tot ist tot." Gudrun R. fügt hinzu: "Es gibt einfach keine sicheren Orte mehr auf der Welt."

Anmerkung der Redaktion: Wie können Eltern mit ihren Kindern über die Ereignisse in München reden? Das Notfallpädagogische Institut hat Ratschläge zusammengestellt - hier als PDF.

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