Alltag in Kabul:Es lebt ein Schwein in Afghanistan

Lesezeit: 3 min

Der Zoo von Kabul hat viele Kämpfe überlebt. Heute besuchen ihn viele Afghanen, um sich zu entspannen - und um ein Schwein zu bestaunen.

Tobias Matern

Der Mann wollte wohl einfach mal allen zeigen, was in einem wahren Mudschaheddin steckt. Stolz verkündete der kampferprobte Afghane, dieses Tier werde ihm nichts anhaben können. Dann betrat er den Löwenkäfig, in dem Marjan mit seinem Weibchen lebte. Kurz danach war der Eindringling tot. Das Raubtier war seinen Instinkten gefolgt, hatte ein paar Mal kräftig zugebissen, den Mann aufgefressen.

Einen Tag später kam wieder ein Mudschaheddin in den Kabuler Zoo. Es war der Bruder des Getöteten. Und der wollte nur eines: Rache üben. Also feuerte er eine Handgranate auf Marjan. Die setzte dem Löwen schwer zu. Aber der afghanische König der Tiere war nicht totzukriegen. Zwar erblindete Marjan, auch die Zähne fielen ihm nach und nach aus. Gleichgewichtsstörungen soll er gehabt haben, ein paar Mal beim Gehen umgekippt sein. Aber gestorben ist er nach der Attacke nicht. Das Tier lebte noch einige Jahre weiter - schwer gezeichnet zwar, aber immerhin.

Die Geschichte des tapferen Löwen erzählen sie so, oder in etwas abgewandelten Versionen, auch fünfzehn Jahre später noch gerne im Kabuler Zoo. "Die Menschen in Afghanistan lieben Marjan, sie sind stolz auf seine Tapferkeit", sagt der Zoologe Abdul Kadir Bahawi, während er vor dem Käfig der beiden neuen Löwen steht - ein Geschenk aus China. Das Lieblingsmotiv der Besucher für das Erinnerungsfoto ist nicht unter den lebenden 34 Tierarten, sondern die bronzefarbene Statue des Löwen ohne Augen. Sie steht ein paar Meter hinter dem Eingang dieses Zoos, der so etwas ist wie ein Sinnbild für ganz Afghanistan: Jahrzehnte der Gewalt haben den Menschen und auch den Tieren schwer zugesetzt.

Mudschaheddin schossen den einzigen Elefanten

Der Zoo lag an vorderster Front während des Bürgerkriegs, als in Kabul alle gegen alle kämpften. Die Einwohner hatten schon damals nicht genug Nahrung. Das bisschen, was für die Tiere gedacht war, verschwand häufig in den Taschen derjenigen, die gerade an der Macht waren. Die Mudschaheddin-Kämpfer töteten im Zoo Rehe und Kaninchen, um sie zu essen, sie erschossen sogar den einzigen Elefanten. Während des Taliban-Regimes machten sich viele Besucher einen Spaß daraus, die Tiere zu quälen.

Das ist heute anders. Die Menschen halten sich meist an die Regeln, und auch sonst gibt es hoffnungsvolle Zeichen. Zwar sind die Wege noch nicht richtig gepflastert, der angrenzende Bach ist mit Müll übersät, auf der Krankenstation mangelt es an Medizin. Aber immerhin bekämen die Tiere genug zu fressen, heißt es. Und es gibt wieder Gehege, mit internationalen Hilfsgeldern haben sie eine Mauer um das Gelände gebaut.

Der Zoo ist einer der wenigen für alle Menschen zugänglichen Orte in Kabul - vor allem bei Familien ist er ein beliebtes Ausflugsziel. Obwohl er klein ist, bleiben viele Besucher für etliche Stunden. Am Wochenende kommen bis zu 10 000 Frauen und Männer. Dass sie gemeinsam die Tiere anschauen, ist in der afghanischen Hauptstadt keine Selbstverständlichkeit. Ins Kino gehen beispielsweise fast nur Männer. Bei den Hochzeiten, die in Kabul gerne in pompösen, eigens dafür gebauten Sälen gefeiert werden, sitzen Männer und Frauen voneinander getrennt.

"Ein Ort der Entspannung und Freude"

Rahin steht mit seinen fünf Kindern vor dem Affenkäfig. Seit er sich erinnern kann, sagt der 43-Jährige, komme er regelmäßig in den Zoo. Nur als die Kugeln im Krieg hier zischten, habe er seine Besuche unterbrochen. Im Moment machten die Tiere einen richtig guten Eindruck, sagt Rahin. Es habe Zeiten gegeben, da lungerten sie nur apathisch in ihren Käfigen herum, so unterernährt waren sie. Der Kabuler Zoo sei für ihn und seine Familie ein "Ort der Entspannung, der Freude". Seine Kinder drängen, sie wollen weiter zum Riesenrad und zur Schiffschaukel. "Und dann noch zum Schwein", fordert Rahins jüngster Sohn.

Im muslimischen Afghanistan gilt schon die Existenz dieses Tieres als Besonderheit, aber im vergangenen Jahr geriet es noch zusätzlich in den Mittelpunkt des Interesses. Selbst am Hindukusch hatte sich die Angst vor der Schweinegrippe ausgebreitet, erzählt der Zoologe Bahawi. Es seien weniger Besucher in den Zoo gekommen, bis sich die Leitung entschlossen habe, das Tier lieber unter Quarantäne zu stellen. Der Zoodirektor sagte damals, manche Gäste hätten befürchtet, sich anzustecken, wenn sie das Tier nur in seinem Käfig betrachteten. Die Furcht hat sich wieder gelegt, das Schwein liegt an diesem Tag faul und dickbäuchig in seinem Gehege.

Zum Abschluss des Rundgangs zeigt Bahawi noch stolz die bunten Fische aus Pakistan und afghanische Schlangen. Sie liegen bewegungslos in einem Terrarium. Bahawi erzählt nun von seinen Besuchen in indischen Tierparks, wo es eine Vielzahl von Arten zu bewundern gibt. Er gerät ins Schwärmen, vor allem die Krokodile haben ihn begeistert. Auch vor dem kleinen Bassin im Kabuler Zoo liegt ein solches Reptil. Es ist aus Plastik.

© SZ vom 04.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: