SZ-Kolumne "Alles Gute":Die erste Videokonferenz ihres Lebens

Lesezeit: 2 min

(Foto: Steffen Mackert)

Viele Senioren wachsen gerade über sich hinaus, um ihre Angehörigen trotz Abstandsregeln sehen zu können. Über eine Premiere mit 98 Jahren.

Von Cerstin Gammelin

Das erste Mal mit fast 98 Jahren mutet an wie ein Traum. Schön - und so unwirklich. Wie kann das sein, dass sie auf ihrem Mobiltelefon gleichzeitig ihre Tochter, ihre Enkelin und sich selbst sehen kann? Ihr seid doch bei euch zu Hause, fragt meine Großmutter vorsichtshalber, während sie versucht, sich schnell die Haare zu richten. Dass sie an diesem Sonntagmorgen trotz der Corona-Abstandsregeln ihre Familie sozusagen zu Besuch hat, das ist doch überraschend. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, allein frühstücken zu müssen. Dann klingelte das Telefon - und nun sitzt sie in einer Dreier-Videoschalte. Was ein so langes Leben alles mit sich bringt.

Die Videoschalte ist einer der großartigen Momente, die es in dieser Corona-Krise trotz allem gibt. Senioren wachsen über sich hinaus, damit sie ihre Angehörigen sehen können. Sie lernen englische Begriffe auszusprechen wie Skype, Chat oder Whatsapp. Sie lernen, dass es Menüs nicht nur im Restaurant gibt. Dass man das Smartphone nicht nur ans Ohr hält, sondern auch am ausgestreckten Arm direkt vors Gesicht.

In Zeiten von Corona zahlt sich aus, wenn man vorher schon mal geübt hat. Als die Großmutter vor acht Jahren neunzig geworden und in eine altersgerechte Wohnung eingezogen war, hatte ich ihr ein iPad geschenkt. Ein altersgerechtes Geschenk. Großer Bildschirm, großer Knopf, der Rest nur Fingerwischerei. Tablets sind wie gemacht für Senioren. Sie können sich Fotos ihrer Kinder, Enkel und Urenkel schicken lassen, sie können sich auf - Achtung! Englisch! Jutube - längst vergessene Lieder wieder anhören. Ach, was haben wir getanzt, als wir jung waren. Als wir verliebt waren. Und auch: Was will ich auf meiner Beerdigung hören? Zuweilen wird es holprig, dann brauchen die jüngeren Verwandten gute Nerven. Etwa, wenn per SMS Hilferufe wie dieser kommen: Alles verloren. Emil ist weg. Emil? Man ruft schnell an. Und? Die Großmutter hatte versehentlich eine E-Mail gelöscht.

Lange hatten sich ihre Nachbarn geweigert, Tablets und dergleichen überhaupt anzuschauen. Auch das ändert Corona. Die beste Freundin in der Wohnung nebenan besitzt jetzt auch ein Smartphone. Ein anderer Nachbar hat um Tipps gebeten, wie man über Internet telefoniert. Der Arzt hat eine E-Mail geschrieben. Die Hausleitung denkt darüber nach, Internetbereiche einzurichten.

In jeder Krise passiert auch Gutes, selbst wenn man es nicht immer auf den ersten Blick erkennen kann. In dieser Kolumne schreiben SZ-Redakteure täglich über die schönen, tröstlichen oder auch kuriosen kleinen Geschichten in diesen vom Coronavirus geplagten Zeiten. Alle Folgen unter sz.de/allesgute

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