Ägypten:Danke, Internet

Lesezeit: 3 min

Ein typisches Bild in Kairo: Ein Kind schläft auf der Straße. Wie viele genau vermisst werden, weiß niemand. (Foto: Hassan Ammar/AP)

Kinder sind für Kriminelle in Ägypten eine begehrte Ware - die Polizei schaut hilflos zu. Ein Mann sucht nun via Facebook nach vermissten Kindern und hat damit Erfolg.

Von  Karin El Minawi

Eineinhalb Jahre war der heute fünfjährige Abdalla verschwunden, war wie vom Erdboden verschluckt. Damals ging alles sehr schnell: Seine Mutter war einkaufen, Abdalla spielte mit seinem Fahrrad vor dem Laden; in Ägypten nichts Ungewöhnliches, auf Kairos chronisch überfüllten Straßen spielen Kinder zu jeder Tageszeit mit ihren Stöcken und Reifen, Bällen oder Rädern und lassen sich von den vielen Marktständen und den hupenden Autos dabei nicht stören. Doch plötzlich war Abdalla weg.

Seine Mutter suchte überall nach ihm. Stunden später erfuhr sie, dass eine Frau ihn geschnappt und für umgerechnet 30 Euro verkauft hatte. Die Mutter verständigte die Polizei und suchte weiter - vergeblich. Abdalla blieb verschwunden. Bis vor Kurzem: Ein Mann sah das Bild des Jungen auf einer Facebook-Seite für vermisste Kinder - und glaubte den Nachbarsjungen erkannt zu haben. Er kontaktierte die Eltern und konfrontierte die Nachbarn. Sie gestanden, ihn auf der Straße gefunden zu haben. Da sie nicht wussten, was zu tun war, behielten sie ihn. Heute ist Abdalla wieder bei seinen leiblichen Eltern.

Wegen Geschichten wie dieser hat Rami El Gebali die Facebook-Seite "Atfal Mafquda", vermisste Kinder, gegründet. "Ich möchte die Gesellschaft bei der Suche nach vermissten Kindern miteinbeziehen", sagt er. Der ägyptische Geschäftsmann sieht sich als Ansprechpartner für Familien, deren Kinder als vermisst gelten und die von der Polizei nicht die nötige Aufmerksamkeit bekommen. Auf Facebook sammelt er Fotos und Beschreibungen von vermissten Kindern, teilt Informationen der Eltern und startet Suchaktionen. "Ich wollte eine Plattform schaffen, auf der gesuchte und auch gefundene Kinder gelistet werden, um es möglich zu machen, sie mit ihren Eltern zu vereinen", sagt der Vater von zwei Kindern. Ständig aktualisiert er die Seite, postet Bilder von mit ihren Eltern vereinten Kindern, aber auch von denen, die tot gefunden werden und die identifiziert werden müssen.

Auch fünf Jahre nach der Revolution, in der mithilfe der sozialen Netzwerke das Mubarak-Regime gestürzt wurde, spielt Facebook in der Alltagskommunikation eine große Rolle: Die Ägypter nutzen die sozialen Netzwerke, um Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen, dringende Alltagsprobleme, die vom Staat ignoriert werden, anzugehen und sich auszutauschen, da die außerparlamentarische Opposition sich wieder ins Internet zurückgezogen hat. In dem 92-Millionen-Einwohner-Land hat fast die Hälfte Zugang zum Internet, beinahe 16 Millionen nutzen Facebook. Und das vor allem, um neue Geschäftsideen vorzustellen - und Kampagnen zu starten.

Wie Rami El Gebali: Mehr als 600 000 Follower hat seine Seite schon. Täglich werden es mehr. Viele helfen aktiv mit, sie schicken Fotos von Straßenkindern, helfen der Polizei bei der Identifizierung von gefundenen Kindern, suchen Verschwundene in ihren Stadtteilen und melden Bettler, die mit Kindern unterwegs sind. "Oft sind das entführte und unter Drogen gesetzte Kinder", sagt Rami El Gebali. "Auch da versuchen wir zu helfen, da die Kinder es nicht alleine aus den Fängen der Mafia schaffen. Die steckt meist dahinter", sagt er.

El Gebali wird von der Mafia bedroht. Sie betrachtet seinen Einsatz als Kriegserklärung

In Ägypten sind Kinder für kriminelle Banden eine begehrte Ware: Mit ihnen lässt sich schnell viel Geld verdienen. Kinder- und Organhandel, Entführungen mit hohen Lösegeldforderungen nehmen zu. Eine offizielle Statistik über die Anzahl der vermissten Kinder gibt es jedoch nicht; laut ägyptischem Nationalrat für Frauen und Kinder sollen 2000 Kinder als vermisst gemeldet sein. Die Dunkelziffer dürfte aber weitaus höher liegen. Viele Fälle werden der Polizei nicht gemeldet, da die Angehörigen ihre Kinder nicht in Gefahr bringen wollen - oder schlicht an der Kompetenz der Polizei zweifeln. Die ist wegen der unstabilen Sicherheit überfordert, da auch nach der Machtübernahme durch das Militär die Sicherheitslage angespannt ist. Nur langsam erholt sie sich von den Auswirkungen der Revolution von 2011.

Damals koordinierte die ägyptische Zivilgesellschaft ihre Proteste über die sozialen Netzwerke. Sie demonstrierte gegen Polizeiwillkür und Gewalt, gegen Folter und Korruption. Als Folge zogen sich die Polizisten zurück - die Bürger waren auf sich gestellt. Das sind sie zum Teil auch heute noch: "Fälle vermisster Kinder haben bei der Polizei keine hohe Priorität. Für sie sind es nur Kinder, die irgendwann wieder auftauchen", sagt El Gebali. Ungefährlich sei seine Kampagne jedoch nicht: "Ich habe schon einige Drohungen erhalten", sagt er. Die ägyptische Mafia verstehe seinen Einsatz als Kriegserklärung. Daher fürchte er um seine Sicherheit, mehr aber um die seiner Kinder. Trotzdem macht er weiter. Vor allem, weil er Erfolg hat: Vier entführte Kinder konnten mithilfe seiner Seite zurückgebracht, mehr als 80 vermisste Kinder mit ihren Eltern vereint werden.

Wie auch Mustafa. Der Zehnjährige spielte wie gewöhnlich vor der Haustür, als er verschwand. Die Eltern gingen zur Polizei, doch die nahm nur die Beschreibung auf, sie leitete keine Fahndung ein. "Wir gerieten in Panik, da wir ja wissen, was mit den Kindern passiert", sagt der Vater Alaa Said. Er fertigte mehrere Dutzend Flugblätter mit dem Foto seines Sohnes und seinen Kontakten an und verteilte sie in der Nachbarschaft. Eine Entführung wegen einer Lösegeldforderung schloss er aus: Alaa Said ist Lagerhalter, er verdient nicht viel, schafft es jeden Monat gerade so über die Runden. "Ich hatte Angst, dass er wegen seiner Organe entführt wurde", sagt er. Als Said durch eine Nachbarin von der Facebook-Seite erfuhr, ließ er die Bilder seines Sohnen sofort draufsetzen.

Drei Tage später klingelte das Telefon: Eine Frau hatte den Jungen, der sich verlaufen hatte, erkannt und verständigte die Eltern. Mustafa und seine Eltern hatten Glück - und Internet.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: