Zeugenaussagen von Missbrauchsopfern:"Er hat mir aua gemacht"

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Strafrichter Robert Grain simuliert die Vernehmung eines Missbrauchopfers vor der Kamera, die den Betroffenen die Aussage vor Gericht ersparen soll. (Foto: Rumpf)

Minderjährige Opfer sexueller Gewalt können in München in einem speziellen Vernehmungszimmer aussagen - über Video, damit sie dem Täter vor Gericht nicht noch einmal begegnen müssen. Richter Robert Grain befragt sie, möglichst kindgerecht. Gelernt hat er das nirgends.

Von Selina Thaler, München

Das Mädchen legt den Teddy auf die Couch. Es beugt sich über ihn und macht Stoßbewegungen. Das behinderte Kind ist in einer Videovernehmung, als Opfer eines sexuellen Missbrauchs. "Was hat der Mann gemacht, was dir nicht gefallen hat?", fragt Strafrichter Robert Grain. "Er hat mir aua gemacht", sagt sie. Im Nebenzimmer beobachten drei Personen die Vernehmung auf einem Monitor: der Verteidiger des angeklagten Stiefvaters, der Staatsanwalt und die Anwältin der Zeugin.

Das Mädchen ist eines von zwei minderjährigen Missbrauchsopfern, die Grain im Schnitt pro Woche im Vernehmungszimmer am Münchner Amtsgericht vernimmt. Im Jahr sind es etwa 200 Opfer, die hier auf dem orangefarbenen Sofa sitzen und erzählen, was sie über sich ergehen lassen mussten. Seit 15 Jahren gibt es die Videovernehmung in München - das Münchner Gericht ist eines der wenigen in Deutschland, das diese Technik so konsequent einsetzt.

Die Opfer werden bei der Vernehmung gefilmt und müssen später nicht mehr vor Gericht erscheinen. Vier Kameras und zwei Mikrofone zeichnen das Geschehen im Vernehmungszimmer auf. "Es ist wie eine normale Vernehmung vor Gericht, nur in einem geschützten Raum", sagt Grain. Das habe den Vorteil, dass das Opfer dem Täter nicht noch einmal begegnet und nicht noch einmal aussagen muss.

"Viel emotionaler als im Gerichtssaal"

"Das ist viel emotionaler als im Gerichtssaal", sagt Grain. Weil in der Regel der Verteidiger und der mutmaßliche Täter die Vernehmung über den Bildschirm mitverfolgen, ist die Geständnisquote höher. "Da muss man schon hart gesotten sein, wenn einen das nicht berührt", sagt Grain. In etwa 60 bis 70 Prozent der Fälle gebe es Geständnisse, 30 bis 40 Prozent der Fälle würden eingestellt, weil zu viele Zweifel bleiben oder die Opfer keine Aussage machen wollen. Nur sehr wenige Verfahren werden ohne Geständnis vor Gericht verhandelt.

Heute gibt es kein Geständnis, denn der Angeklagte ist nicht da - er muss nicht erscheinen. Obwohl die Bewegungen des Mädchens schon deutlich sind, will Grain es genauer wissen: "Wie sagst du dazu, wo du hindeutest?"."Pipi", antwortet das Mädchen zögerlich. Nun verwendet auch Grain dieses Wort, um mit zu erarbeiten, wo der Täter das Opfer berührt hat. Nicht alle Kinder fänden Worte dafür oder wüssten, wie man die Geschlechtsteile nennt, sagt Grain. Zudem sei es vor allem Jugendlichen peinlich, darüber zu sprechen - denn der Strafrichter muss auch die Details wissen. Kleine Kinder hätten da kaum Hemmungen, sagt Grain. Trotzdem sei es schwierig, die Beweise aus ihren Erzählungen herauszufiltern. "Kinder erzählen die meiste Zeit abenteuerlichste Geschichten, die gar nichts mit dem Vorfall zu tun haben", sagt Grain. Meist dauern die Vernehmungen nicht länger als 20 Minuten. "Dann werden die Kinder unruhig, fangen an, mit den Teddys zu spielen."

Keine Ausbildung für Richter

Wie er mit ihnen in der Vernehmung sprechen oder umgehen soll, hat der Jurist nirgends gelernt. Es gibt keine Ausbildung für Richter, die solche Videovernehmungen durchführen. "Ich habe zwei Kinder, da weiß man, wie man reden muss", sagt Grain. Er darf auch die Fragen, die zum Beispiel der Verteidiger über einen Chat stellt, kindergerecht umformulieren. "Der Verteidiger ist in seinem Fragerecht etwas eingeschränkt", erklärt Grain. Er könne keinen Druck ausüben, habe keinen Augenkontakt mit dem Opfer, weil er nicht im gleichen Raum ist. Das würden manche an der Videovernehmung kritisieren.

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Die geschützte Atmosphäre sei aber wichtig für die Opfer, um sich zu öffnen. Vor Gericht seien Kinder meist zu angespannt. Im Vernehmungszimmer, das wie das Wartezimmer beim Kinderarzt aussieht, gibt es Spielzeugkisten mit Lego, einen Sitzsack, auf dem Tisch stehen Süßigkeiten. "Die Maltafel ist der Renner", sagt Grain, der mit den Kindern zusammen erst ein bisschen spielt, bevor er sie vernimmt. So kann er sie besser einschätzen.

Die Ausrüstung ist 30 000 Euro wert

Dass die Videovernehmung nicht flächendeckend in Deutschland zum Einsatz kommt, liegt laut Grain daran, dass es keine Ausbildung dafür gibt und viele diese Art von Vernehmung nicht kennen. Manche würden sich auch nicht filmen lassen wollen. Außerdem sind die Kosten der Videovernehmung hoch: In München ist die Ausrüstung 30 000 Euro wert.

Für Grain ist dieses Geld gut investiert. Trotz der schwierigen Thematik mache ihm die Arbeit Spaß. In den meisten Fällen liest sich Grain die Akte am Vortag und vor der Vernehmung durch, "am nächsten Tag habe ich sie wieder vergessen". Da sei er wie ein Chirurg, der jeden Tag Beine amputieren müsse. Doch es gibt auch Vorfälle, die ihm Kinder im Vernehmungszimmer erzählen, die lassen auch Grain nach all den Jahren nicht kalt.

© SZ vom 08.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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