Zeitzeugen:Keine "Entschlußkraft"

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Die Sozialdemokraten seien lustlos, kritisiert Ernst Niekisch

Der Sozialdemokrat Ernst Niekisch (1889 - 1967) leitete den Zentralrat der bayerischen Arbeiter-, Bauern - und Soldatenräte und war für einen Tag Regierungschef der neuen Räterepublik. Laut seinen Erinnerungen an die konstituierende Sitzung im Wittelsbacher Palais sah er die Räterepublik selbst jedoch skeptisch.

"Erich Mühsam war ganz in seinem Element. Auch Gustav Landauer lebte in dem Gefühl, seine große Stunde sei gekommen. (...) Nicht mehr 'Minister' sollten sich die führenden Männer nennen, sondern 'Volksbeauftragte'. Zuerst wurde das Amt des Volksbeauftragten für das Auswärtige aufgerufen. Erich Mühsam stand auf, wies auf den guten Namen hin, den er im Ausland genieße (...) und empfahl schließlich sich selbst für den Posten. Die meisten Hörer schmunzelten bei Mühsams Rede. Er war ein sprudelnder, witziger Geist, ein guter Mensch, aber so ausgesprochen literarischer Bohemien, daß sich niemand ihn in einer würdigen Amtsposition vorstellen konnte. (...) Toller schlug einen Dr. Theodor Lipp vor. (...) Niemand kannte Lipp, niemand hatte von ihm gehört, aber da man einen anderen Kandidaten nicht hatte, schluckte man diesen. (...)

Für das Amt des Volksbeauftragten für Erziehung und Unterricht wurde ich in Vorschlag gebracht. Mit Entschiedenheit lehnte ich ab. So 'bescheiden', wie sich vorher Mühsam für das Äußere selbst empfohlen hatte, wies nun Gustav Landauer auf sich hin. (...) Für das Innere war der Unabhängige Sozialdemokrat August Hagemeister vorgesehen. Er war ein gewissenhafter, aber sehr umständlicher Mann, der, wenn er zu sprechen begann, nur schwer ein Ende fand. In Ermangelung eines anderen Vorschlages ging Hagemeister durch. Das Verkehrswesen wurde einem offenkundigen Landstreicher, Georg Paulukun, zugedacht. (...)

Während der Verhandlungen wurde Leviné gemeldet. Mit Spannung war er erwartet worden, da man es als paradox empfand, die Räterepublik ohne Kommunisten ausrufen zu wollen. Leviné wandte sich in scharfen Worten gegen den Plan, der hier erörtert wurde. Die Sozialdemokraten seien durch ihre Kriegspolitik belastet, sie besudelten die Räteidee. (...) Die Kommunistische Partei beteilige sich nur an Unternehmungen, deren Führung in ihren Händen liege. (...)

Nachdem sich Leviné entfernt hatte, brauchten die Versammelten einige Zeit, um die Fassung wiederzugewinnen. (...) Als die Sozialdemokraten unter sich waren, ließen sie allesamt erkennen, wie lustlos sie dem Räteabenteuer gegenüberstanden. Keiner aber hatte die Entschlußkraft, nein zu sagen."

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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