Zu Besuch in Wolfratshausen:Der Mann ohne Großvater

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Leibl Rosenberg erzählt beim Bürgermeister und in der Realschule sehr bewegend von seiner Kindheit im DP-Lager Föhrenwald.

Von Felicitas Amler

Dieser eine Satz wird an diesem Tag immer wieder zu hören sein: "Ich hatte ja keine Großeltern." Der 66 Jahre alte Leibl Rosenberg, Zeitzeuge des Lagers Föhrenwald für jüdische Displaced Persons (DP), spricht am Freitag beim Empfang des Wolfratshauser Bürgermeisters davon. Er weckt damit bei Klaus Heilinglechner Erinnerungen ganz anderer Art - an dessen eigene Großfamilie: "Bei uns waren in der Spitzenzeit vier Generationen in einem Haus."

In der warmen Atmosphäre dieser Unterhaltung betont Rosenberg, dessen Familie zu großen Teilen den Nazi-Terror nicht überlebt hat, wie schön seine Zeit in Föhrenwald, dem heutigen Waldram, gewesen sei. Die Loisach, der Wald, die vielen Freunde, die Freiheit und die Geborgenheit inmitten zwar traumatisierter und schwerstkranker Menschen, denen aber nichts mehr am Herzen lag als die Kinder. "Unsere Eltern haben uns mit Liebe und zur Liebe erzogen", sagt er. Und mit dem Blick auf die Geschichte Föhrenwalds wirbt er bei Heilinglechner um ein Miteinander: "Heimat ist das, was wir gemeinsam empfinden." Jedem seiner Sätze merkt man an, dass Rosenberg - ehemals Tageszeitungsredakteur in Nürnberg - ein Mann der Sprache ist. Einer, der sich als Autor mit Arno Schmidt, Paul Celan und Karl Kraus befasst hat. "Jeder von uns ist Geschichte", sagt er noch zum Wolfratshauser Bürgermeister, "und jeder von uns gibt Geschichte weiter."

Leibl Rosenberg ist nicht zum ersten Mal aus Nürnberg an die Stätte seiner Kindheit zurückgekehrt. Er hat Föhrenwald, wo er bis zu seinem achten Lebensjahr 1956 aufwuchs, als Erwachsener gemeinsam mit anderen Zeitzeugen besucht. Und er hat die Stadt Wolfratshausen mit seiner fränkischen Frau erkundet, deren Großvater hier lebte. Doch zum ersten Mal wird er von einem Bürgermeister dieser Stadt empfangen: "Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in dieses Rathaus komme", sagt er.

55 Millionen tote Menschen, zehn Millionen tote Deutsche, keine Familie, die nicht davon betroffen ist, sei es weil Angehörige als Soldaten starben, als Bombenopfer, als Kriegsgefangene oder auf der Flucht: In der Realschule Wolfratshausen versucht Rosenberg nach dem Bürgermeister-Bessuch, den Neuntklässlern die Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs vor Augen zu führen. Dieser Krieg habe wie eine Atombombe eingeschlagen, die Splitter der Explosion seien über die Welt verteilt. Ihn selbst haben Nazi-Herrschaft und Krieg um seine Großeltern gebracht. Eine Großmutter sei vermutlich in Majdanek ermordet worden.

Und dann erzählt er vom Schicksal der polnischen Juden, flicht ins Allgemeine Persönliches ein, über die Großväter, die er nie erleben durfte - Schuster der eine, Schneider der andere. Spricht von der Mutter, die dank Stalin, der im Übrigen natürlich auch ein Verbrecher gewesen sei, nach Russland fliehen konnte. Nach all den Wirren aus Flucht, Arbeitslager und Nazi-Terror sei ihr nichts geblieben außer fünf Fotografien, die er nun hüte wie einen Schatz. Zwischendurch gibt Rosenberg den Kindern Geschichtsunterricht im Stenogramm. Er berichtet, dass von 3,6 Millionen Juden in Polen nur etwa 400 000 die Nazi-Zeit überlebten. Er erklärt, dass die Sowjetunion 25 Millionen Tote zu beklagen hatte und man deswegen "nicht beleidigt sein" dürfe, wenn sich die Hinterbliebenen gelegentlich daran erinnerten. Er streift die aktuelle Ukraine-Krise und erzählt, wie damals im Krieg die polnischen Juden, die nur nach Osten fliehen konnten, auch die Ukraine durchqueren mussten: "Die Ukrainer waren die Todfeinde der Russen und seit Jahrhunderten die schlimmsten Feinde der Juden." Aber er macht die Jugendlichen auch darauf aufmerksam, dass die Nazis nicht nur die Juden "auf der Abschussliste hatten", sondern auch "Zigeuner", Freimaurer, Pfarrer, Sozialisten . . . "In zwölf Jahren kann man nicht viel mehr erledigen, als die erledigt haben."

Das Positive kommt keineswegs zu kurz in Rosenbergs sehr bewegendem Zeitzeugenbericht. Auch den Realschülern schildert er seine Föhrenwald-Zeit farbig, fast schwärmerisch. "In diesem Lager waren lauter kaputte Menschen. Und lauter glückliche Kinder." Nur Großeltern habe es dort fast gar nicht gegeben. Er selbst habe inzwischen zwei erwachsene Töchter - und einen Enkel. Der kluge, beredte und warmherzige Mann rührt nicht wenige seiner Zuhörer zutiefst, als er anfügt: "Wer keinen Opa hatte und einen Enkel hat, der hat das große Los gezogen."

© SZ vom 12.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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