Wolfratshausen:Fulminanter Trapez-Akt

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Mit nobler Souveränität führte Dirigent Fuad Ibrahimow die jungen Musikerinnen und Musiker der Neuen Philharmonie München bei Tschaikowskys Klavierkonzert in der Wolfratshauser Loisachhalle. Ein Idealbesetzung für den Solopart war dabei die Pianistin Kristina Miller. (Foto: Hartmut Pöstges)

Beim Jubiläumkonzert in der Loischhalle meistert die junge Neue Philharmonie München mit Tschaikowskys Klavierkonzert und Strawinskys "Le sacre du Printemps" zwei Mammutwerke der Orchesterliteratur. Bravourös: die Pianistin Kristina Miller

Von Paul Schäufele, Wolfratshausen

Trapezkünstler ziehen ein Publikum in Bann, weil etwas auf dem Spiel steht. Eine falsche Bewegung, und abwärts geht es. Aus demselben Grund versetzen die Konzerte der Neuen Philharmonie München ihre Zuhörerschaft in Begeisterung. Hier musizieren junge, hochbegabte Leute, bei denen noch um jede Note des anspruchsvollen Programms gekämpft wird. Nichts ist hier Routine. Doch fehl gehen sie so gut wie nie. Das zeigte sich bei ihrem Auftritt in der Wolfratshausen Loisachhalle.

Mit freudigem Schwung eröffnet das gut hundertköpfige Orchester unter Leitung seines Chefdirigenten Fuad Ibrahimov das Jubiläumskonzert. Dmitri Schostakowitschs "Festliche Ouvertüre" ist der Aperitif zu einem Abend mit zwei Kolossen der Orchesterliteratur. Und mit vollem Klang setzt das Orchester dann auch ein, vier Takte Vorspiel zu einer der bekanntesten Einleitungen der Musikgeschichte. Mit vollgriffigen, weichen Akkorden eröffnet die russische Pianistin Kristina Miller den Solopart von Pjotr Tschaikowskys erstem Klavierkonzert. In der jungen Künstlerin, die 2012 ihren Musikhochschulabschluss bei Gerhard Oppitz gemacht hat, haben die Neuphilharmoniker eine Idealbesetzung gefunden.

Dem kraftvollen Orchesterklang hat sie einiges entgegenzusetzen: weite Akkorde, die auch im Fortissimo nie spröde werden, präzise Artikulation und eine fein ausgearbeitete Melodieführung, die sich nie in romantisierenden Tempofreiheiten verliert. Die Phrasen erweitern sich ins Unendliche, weil sie Prioritäten zu setzen weiß - unter den zig Noten der schillernden Klavier-Arpeggien sind nicht alle gleich wichtig. Manches kann sie schlicht geschehen lassen, darauf bauen, dass es von selbst läuft. Dabei ist dieses Spiel überlegt und strukturiert. Ein Part wie der des ersten Tschaikowsky-Konzerts, ein auf Überwältigung angelegtes Werk für Löwenpranken, gewinnt durch diesen Zugang enorm. Zumal in Passagen, in denen Ibrahimov orchestralen Furor entfacht, überzeugt Miller mit nobler Souveränität, hält die Zügel fest.

An anderen Stellen gibt sie die Impulse. Etwa wenn im mittleren Satz, einer sanft wiegenden Pastorale, plötzlich das Orchester zu einem französischen Chanson prestissimo ansetzt. Mit munteren Trillern verleiht Miller dieser Stelle ihren Glanz. Und glanzvoll endet das Konzert. Mit unbändigem Temperament feuern sich Kristina Miller und die Neue Philharmonie in diesem Tanz zu immer mutigeren Drehungen an. Nach triumphalen Oktavkaskaden und finalem B-Dur-Jubel beruhigt Miller das Publikum mit der traumhaften Melancholie von Alexander Skrjabins Etüde cis-Moll (Opus 2 Nummer 1).

Tschaikowskys Klavierkonzert und Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" (Das Frühlingsopfer) verbindet vielleicht mehr, als ein erster Blick vermuten lässt. Beide Werke greifen in ihren Melodien auf populäre Musik, auf ältere oder jüngere Volksweisen, zurück. Beide galten unmittelbar nach ihrer Fertigstellung als unspielbar. Zwar ist auch Strawinskys Ballettmusik inzwischen im Repertoire angekommen, doch vor den komplexen, additiven Rhythmen, den schrägen Klangschichtungen und den blockartig organisierten Sätzen, deren Ablauf keiner traditionellen musikalischen Logik zu folgen scheint, davor haben Orchestermusiker noch heute Respekt. Schon das unbequem hohe Fagott-Solo zu Beginn kann beunruhigen. Doch mit Frederik Gambergers sicherer Intonation wird es zum Signal des erwachenden Frühlings. Von da an murmelt und sprudelt es, der Frühling regt sich und fordert sein Opfer, so sieht die Handlung des Balletts es vor. Mädchen versammeln sich zu ihren Tänzen, die Tänze werden zum Ritual. All das passiert in der Loisachhalle, die leider einige der klanglichen Feinheiten verschluckt, mit rhythmischer Prägnanz und der größtmöglichen Sinnlichkeit. Im "Frühlingsreigen" geht Ibrahimov den Tönen auf den Grund, reiht einen tiefen, pulsierenden Ur-Klang an den nächsten. Konsequent steigern Dirigent und Orchester das Klangtotal bis zu dem nur wenige Sekunden dauernden Moment, der die Wende in der Balletthandlung bedeutet: ein unwirklicher, gläserner Akkord - der alte Weise küsst die Erde.

Von da an schlängeln sich die Melodien, Akkorde sprießen. Dieses "Sacre" ist ein Naturereignis. In der abschließenden "Danse sacrale" preschen die Musiker unerbittlich voran, intonieren die Herzschläge des zum Opfer erwählten Mädchens und lassen es zuletzt in einem qualvollen Akkord zusammenbrechen. Das Publikum bleibt atemlos zurück.

Nicht lange freilich, dann bricht sich der Applaus Bahn, den das sichtbar glückliche Orchester und sein strahlender Dirigent entgegennehmen. Und zur Feier des Tages - schließlich freut man sich über 15 Jahre "Musikwerkstatt Jugend" - gibt es noch eine Zugabe. Mit nicht nachlassender Energie spielt die Neue Philharmonie noch die Ouvertüre zu Leonard Bernsteins Operette "Candide". Sie tun es auch nach der hervorragenden Interpretation zweier Mammutwerke mit Schmiss und Witz. Da möchte man am liebsten die Erde küssen vor Verzückung.

© SZ vom 09.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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