Tölzer Prügel:Tückischer Nachholbedarf

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Groß ist die Sehnsucht nach Kultur in diesen von Corona geprägten Tagen. Die Veranstalter wollen endlich die ausgefallenen Konzerte, Lesungen und Vorführunge nachholen - was zu einem Rattenrennen führen könnte

Von Claudia Koestler

Dieses vermaledeite Virus. Stets scheint es uns mehrere Schritte voraus zu sein. Es hatte sich schon ausgebreitet, da wähnte man es noch in einer Fledermaussuppe im fernen China. Und als man noch mitfühlend die Reportagen aus der italienischen Isolation las, sprintete es längst durch die heimischen Skihütten und Faschingszüge. Es legte sich einen Tarnanzug zu und geistert seither viel zu oft unbemerkt durch die Körper, ehe es ganz plötzlich in seiner ganzen Schrecklichkeit ausbricht, wie ein Schachterldeifi. Und kaum gibt es Impfstoffe, ist das Ding mutiert. Da darf man wirklich nicht daran denken, wie lange man selber braucht, um nur die kleinste Kleinigkeit an sich zu ändern...

Genau in solchen Momenten braucht es dringend Aufmunterung. Hoffnung. Etwas, an dem man sich aufrichten kann. Für viele der erste spontane Gedanke: Kultur! Ach, mal wieder ein Museum besuchen! Mal wieder in einem Kino in eine andere Welt eintauchen. Das elektrisierende Erlebnis eines Livekonzertes mit allen Sinnen genießen! Ach!

Geht nicht, hört man da? Geht doch, sagt ein regionaler Veranstalter, und kündigt für Anfang April einen "Tölzer Klassik Gipfel" an. Unter dem Motto "Ein Feuerwerk der Musik" sollen kompakt zahlreiche jener Konzerte nachgeholt werden, die 2020 pandemiebedingt ausfallen mussten. Aber: So sehr man derzeit auch dürsten mag nach solch unbeschwertem Genuss - das Timing klingt eher nach Wunsch denn Wirklichkeit, nach einem "Feuerwerk des Mutes" quasi. Denn ob die Pandemie-Lage einen solchen geballten Veranstaltungsreigen in drei Monaten zulassen wird, ist mehr als fraglich. Und wie traurig wird es sein, wenn man sich erst gefreut hat und dann statt feinem Bogenstrich einem schrecklichen "Aerosole mio" zu Hause lauschen muss.

Noch ein Timing-Problem: Längst schichten sich Termine auf Termine, denn viele Auftritte, die 2020 verlegt werden mussten, sind für 2021 eingeplant. Zusätzlich, zum Beispiel zu regulären Veranstaltungen wie dem "Ickinger Frühling", nur sechs Tage nach dem "Tölzer Klassik Gipfel" - vom selben Veranstalter orchestriert.

Kultur darf nach der Pandemie nicht zu einem Rattenrennen werden. Dazu ist sie viel zu wertvoll als gesellschaftlicher Anker und als Licht am Ende des Tunnels. Zu viel des Guten birgt die Gefahr einer Kakofonie. Oder eines Overkills. Nicht, dass am Ende so mancher jammert, dass er 2020 wegen Corona nicht ins Konzert gehen konnte. Und 2021 nicht, weil man schon am selben Tag im Kino war. Und im Museum. Und im Theater. Und im Urlaub ...

© SZ vom 18.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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