SZ-Serie: Angekommen, Folge 10:Ein ganzes Leben in einer Kiste

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Maximal 60 Kilo durften die Familien mitnehmen, als sie Anfang April Graslitz verlassen mussten und nach Geretsried kamen. Werner Sebb hat die Gepäcktruhe seiner Familie geöffnet - für die neue Ausstellung "Einmal hin - und nicht zurück"

Von Felicitas Amler, Geretsried

Was nimmt man mit, wenn es nur ein Gepäckstück von maximal 60 Kilo sein darf und man eigentlich nicht weiß, wohin die Reise geht? Nützliches und Praktisches oder doch lieber Dinge, an denen das Herz hängt, die andernfalls unwiederbringlich verloren wären? Die Menschen, die Anfang April 1946 ihre Heimatstadt Graslitz verlassen mussten und schließlich in Geretsried landeten, haben sich ganz unterschiedlich entschieden. Die Ausstellung, die am Donnerstagabend im Stadtmuseum Geretsried eröffnet werden sollte, führt das vor Augen. Eine zerbrechliche Madonnenfigur aus Porzellan ist da ebenso zu sehen wie eine handfeste Axt. Einer der Vertriebenen hielt es gar für hilfreich, das "Adressbuch für Stadt und Bezirk Graslitz" aus dem Jahr 1930 mitzunehmen.

Werner Sebb hat diese Schau mit dem Titel "Einmal hin - und nicht zurück" zusammengestellt. Sebb war sechs Jahre alt, als er mit Mutter und Großeltern am 7. April 1946 im Lager Buchberg ankam. Inzwischen, siebzig Jahre später, kann er dies sogar mit amtlichen Listen belegen. Diese Vertreibungsdokumente sind Teil der Ausstellung. Sebb entdeckte die auf Englisch geführten Listen im Internet, arbeitete sie akribisch durch und präsentiert sie nun im Stadtmuseum, versehen mit einer Berichtigung und einer Anmerkung zu den Daten.

Anneliese Zelfel kann ebenfalls auf eine dieser Listen zeigen - auch sie ist dort aufgeführt. Sie war ein Jahr alt, als sie mit ihrer Mutter Graslitz verlassen musste. Zelfel legte am Tag vor der Ausstellungseröffnung noch gemeinsam mit Werner und Ulli Sebb letzte Hand an die Exponate. Sorgsam haben die Zeitzeugen Porzellan in Vitrinen arrangiert, dazwischen bestickte Tücher drapiert, dazu Fotos, einen Stadtplan von Graslitz und handgearbeitete Wandschoner aufgehängt. Sebb hat aus eigenem Besitz noch ein besonderes Stück beigetragen, Fragmente eines mit Kohlezeichnungen ausgestatteten Buchs "Durch den Industriewinkel Graslitz".

Und zu guter Letzt wurde im Stadtmuseum jene Holztruhe bestückt, mit der Werner Sebbs Familie ankam. Sie ist beschriftet als "Gepäckstück der Familie Wenzel Hoffmann", denn so hieß der Großvater. Darin finden sich die eher praktischen Dinge des Lebens, ein Knödel-Schöpfseiher aus Metall, eine Liwanzenpfanne oder eine Reibe aus Messing. Damit wurden die Kartoffeln gerieben für jene Speise, die bei den Bayern Reiberdatschi heißt und bei den Egerländern Båchna Knelä.

© SZ vom 08.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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