Streichquartettfestival:Bestürzender Kontrast

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Oliver Wille plauderte kenntnisreich und höchst unterhaltsam aus dem Nähkästchen eines Kammermusikers. (Foto: Hartmut Pöstges)

Beim zweiten "Ickinger Frühling" trifft ein hochkarätiges Programm auf enttäuschend wenig Resonanz

Von Reinhard Szyszka, Icking

Was alle Konzertveranstalter fürchten wie der Teufel das Weihwasser, diesmal traf es ein: eine Absage! Kurz vor Beginn des "Ickinger Frühling" meldete sich das Kuss-Quartett aus Berlin ab - wegen des Bahnstreiks, hauptsächlich aber deswegen, weil die Ehefrau des Bratschers kurz vor der Niederkunft stand. Was also tun? Nach einigem Mailwechsel zwischen Icking und Berlin fand sich eine salomonische Lösung. In der Vorwoche hatte das Kuss-Quartett in Moskau gastiert - mit einer Ersatz-Bratschistin und einem gänzlich anderen Programm. Nun einigten sich die Musiker mit den Veranstaltern darauf, mit derselben Bratschistin anzureisen und einen Teil des geplanten Programms kurzfristig mit ihr zu erarbeiten; der Rest wurde aus dem Moskau-Programm übernommen.

Eine Totalabsage des Kuss-Quartetts hätte den "Ickinger Frühling" doppelt hart getroffen, spielt doch in diesem Quartett auch Oliver Wille, der obendrein für zwei Gesprächskonzerte verpflichtet war. Mit dem gefundenen Kompromiss konnten die Gesprächskonzerte wie geplant stattfinden, und es wäre in der Tat jammerschade gewesen, hätte man darauf verzichten müssen. Wille moderierte launig und humorig, dabei von tiefer Sachkenntnis und Liebe zur Musik getragen. Seine doppelte Praxis als ausübender Kammermusiker wie als Hochschullehrer ermöglichte es ihm, aus dem Nähkästchen zu plaudern: Wie gehen die Interpreten an solche Werke, und wie reagieren Musikstudenten, wenn sie damit konfrontiert werden? Man erfuhr, dass ein Espressivo nicht mit verstärktem Vibrato zu verwechseln ist, und dass es bei Beethoven Passagen gibt, wo kein Ton für den Ausführenden angenehm liegt. Neben Wille saß jeweils ein komplettes Streichquartett mit auf der Bühne und zergliederte die Musik. Wille ließ die Stimmen allein und in Zweiergruppen spielen, manchmal in anderen Tempi oder sogar rückwärts. So wurden Strukturen und Zusammenhänge hörbar, die man sonst nicht bemerkt.

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich solche Gesprächskonzerte an die besonders Interessierten im Publikum wenden, hauptsächlich an die, die selber Streichquartett spielen. Daher ist es verständlich, wenn sich zu diesen Konzerten nur ein kleines, aber aufmerksames und sachkundiges Grüppchen an Zuhörern einfand. Bedauerlich ist aber, dass auch bei den anderen Konzerten des "Ickinger Frühling" die Besucherreihen allzu deutliche Lücken aufwiesen, denn die Qualität und Vielseitigkeit des Gebotenen hätte einen vollbesetzten Saal mehr als verdient.

Die drei beteiligten Ensembles - das Berliner Kuss-Quartett, das Londoner Cavaleri-Quartett und das Prager Zemlinsky-Quartett - boten ganz große Quartettkunst und hatten dabei jedes seine eigene Klangfarbe, seine eigene Herangehensweise. Ganz grob vereinfachend lässt sich sagen, dass die Berliner luzide und deutlich, die Londoner introvertiert und versunken, die Prager musikantisch und melodienfroh spielten. Doch kann diese Charakterisierung nur die Schwerpunkte angeben, die die Quartette bei ihrer Arbeit setzen. Selbstverständlich war jedes Ensemble flexibel genug, seinen Stil den Erfordernissen des jeweiligen Werks anzupassen.

Alle drei Quartette hatten ein Werk der klassischen Moderne in ihr Programm eingebaut, und es spricht für das Ickinger Publikum, dass gerade diese Kompositionen besonderen Anklang fanden. Das dritte Bartók-Quartett hat fast neunzig Jahre auf dem Buckel und ist doch auch für heutige Zuhörer ein harter Brocken. In der Interpretation des Cavaleri-Quartetts löste das Werk aber Jubel und Bravorufe aus. Ähnlich erfolgreich meisterte das Kuss-Quartett Strawinskys "Concertino", anstelle des ursprünglich geplanten Lutoslawski-Quartetts. Die Zemlinskys präsentierten eine Komposition von Ernst Krenek, die sie mit warmer Tongebung und viel Vibrato in der Spätromantik verorteten.

Alle drei Konzerte hatten ein Werk von Mendelssohn im Programm, war doch dieser Künstler im Dritten Reich wegen seiner Abstammung verfemt und verboten. Die Veranstalter machten sich den Umstand zunutze, gleich mehrere hervorragende Quartette gleichzeitig bei der Hand zu haben, und kombinierten das Cavaleri- mit dem Zemlinsky-Quartett für Mendelssohns Oktett. Und obwohl die acht Musiker kaum mehr als eine gemeinsame Probe gehabt haben können, gelang ihnen eine mitreißende Interpretation des schwungvollen Jugendwerks. Die Quartette befeuerten sich gegenseitig, spielten sich die musikalischen Bälle zu und wollten manchmal vor Begeisterung von ihren Stühlen abheben.

Die Bilanz des zweiten Ickinger Frühlings ist ein bestürzender Kontrast zwischen dem außerordentlich hohen Niveau des Gebotenen und dem mangelnden Publikumszuspruch. Lag's am Muttertag, an den Erstkommunionen, an den Konfirmationen? Die Veranstalter lassen sich jedenfalls nicht entmutigen und haben den nächsten "Ickinger Frühling" auf April verlegt. Es ist zu hoffen, dass das Festival dann die Resonanz findet, die es verdient.

© SZ vom 12.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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