Die Bergspitze sieht aus, als hätte ein Riese mit einem Hammer auf sie eingeschlagen: überall Risse, Spalten, große und kleine Steinbrocken. Am 2547 Meter hohen Hochnissl im Karwendelgebirge besteht die Gefahr eines gewaltigen Felssturzes. Für Bergwanderer, die jetzt am Ende der Sommerferien zu einer Tour aufbrechen, bedeutet dies, dass sie den beliebten Wanderweg über Rotwandlspitze und Steinkarlspitze vorerst nicht nehmen können. Diese Route ist vom Landkreis aus über Hinterriß leicht zu erreichen. Sie ist ebenso gesperrt wie die weiter unten verlaufende Via Alpina mit ihrem Steig von der Stallenalm auf die Lamsenjochhütte der Sektion Oberland des Deutschen Alpenvereins .
Das dürfte noch lange so bleiben. "Viel Hoffnung habe ich nicht, dass es sich so entwickelt, dass man die Wege bald wieder öffnen kann", sagt Thomas Figl, einer von fünf Landesgeologen des österreichischen Bundeslands Tirol. Die gefährliche Veränderung am Berg entdeckte Figl schon im vergangenen Jahr, als er mit dem Hubschrauber über ihm kreiste. Im Sommer wurden deshalb Wanderweg und Via Alpina 227 gesperrt. Seither hat sich die Situation verschlimmert. Das Ehepaar Martina und Christian Fürutner, das die 1906 erbaute Lamsenjochhütte des Deutschen Alpenvereins betreibt, informierte ihn heuer im Frühjahr, dass es vermehrt zu Steinschlag und Blockabstürzen kommen. Figl stieg wieder in den Helikopter und sah, dass der Grat "schon stark zerlegt ist".
Als Geologe spricht er von Brennflächen, wo Spalten und Risse zunehmend das Gestein durchziehen, in die Wasser und Schnee eindringen, wo sich Eis bildet und wieder taut. Im Laufe der Jahre und Jahrhunderte bröckelt dann auch ein Fels, was für Figl nichts Ungewöhnliches ist. Auch ein Berg altert und löst sich langsam auf, "so ist das halt". Der Klimawandel spielt nach seinem Dafürhalten bei der Entwicklung am Hochnissl keine große Rolle. Anders als im Hochgebirge gebe es dort keinen Permafrost, sagt er.
Ob es tatsächlich zu einem Felssturz kommt, ist für den Landesgeologen schwer vorherzusagen. Zwei Szenarien sind möglich: Vielleicht lösen sich weiterhin nur kleine und mittlere Gesteinsbrocken, vielleicht kommt aber auch plötzlich eine große Ladung mit mehreren zehntausend Kubikmetern herunter. Nur in diesem Fall könnte hernach Wanderweg und Via Alpina 227 womöglich wieder geöffnet werden. Die Lage am Hochnissl ist kein singuläres Geschehen. Vor zehn Jahren entdeckte Figl in der Nähe einen anderen Grat, der "stark in Mitleidenschaft gezogen war". Noch massiver sei derzeit die Situation am 2592 Meter hohen Hochvogel in den Allgäuer Alpen, wo gleich mehrere Felsflanken in Auflösung begriffen sind und sich eine große Spalte auf dem Plateau geöffnet hat, "da können Sie nicht mehr drüber hupfen, sie sind inzwischen vier Meter breit".
Felsstürze haben nach der Beobachtung des Deutschen Alpenvereins (DAV) in den Alpen zugenommen. "Ein Stück weit", sagt DAV-Sprecherin Andrea Händel. Das liegt für sie durchaus am Klimawandel, wobei sie mit Figl übereinstimmt, dass Permafrost in den bayerischen Bergen kaum ein Faktor ist. Extremes Wetter allerdings schon. Denn je mehr Wasser, zum Beispiel durch einen Starkregen, in den Fels eindringe, "desto mehr macht das mit dem Stein", sagt die DAV-Sprecherin.
Ausdrücklich warnt der Alpenverein davor, die Wegesperren und die Warnschilder wegen Steinschlags zu missachten. Vergangenes Jahr starb deshalb ein Bergwanderer aus Belgien, der eine solche Tafel ignoriert hatte und eine Rast in der Höllentalklamm nahe Grainau einlegte - er wurde von einem Gesteinsbrocken erschlagen. Solch tödliche Unfälle seien zwar nicht häufig, aber "unsere Hüttenwirte haben es manchmal schwer, den Wanderern die Gefahren klarzumachen", sagt Händel. Die Risiken seien oftmals nicht auf den ersten Blick zu sehen - "wenn der Weg schön ist, wird man sich der Gefahr nicht bewusst". Ihr Appell: Tourengeher sollte auf jeden Fall die Hinweistafeln ernst nehmen, "wir sperren nicht aus Lust und Laune". Die Lamsenjochhütte ist trotz des drohenden Felssturzes am Hochnissl immer noch zugänglich - aber nur über den Fahrtweg.