Partei neu besetzt:Vom Kapitalisten zum Gemeinwohldenker

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Der 43-jährige Manuel Tessun bildet zusammen mit Achim Schäfer die neue Doppelspitze der ÖDP im Landkreis

Von Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Es gibt Lebensläufe, bei denen darf man nicht am Anfang in die Klischeefalle tappen. Manuel Tessun, neuer Vorsitzender des Kreisverbands der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), hat genau so einen: 1977 in München geboren ging er nach der Schule an die School of Finance & Management in Frankfurt. Er stamme eben aus einem kapitalistischen, eher neoliberalen Umfeld, sagt er. "Und das habe ich gelebt." Elf Jahre lang war der Diplom-Betriebswirt und Bankkaufmann, der auch an der Universidad San Pablo in Madrid studiert und zudem einen Abschluss als Immobilienvermittler hat, dann im Investmentgeschäft tätig, genauer gesagt im internationalen und nationalen Kreditgeschäft sowie im Kreditportfoliomanagement. "Ich habe viel verdient - aber auch viel Geld verbrannt", erinnert er sich. Doch das schnelle Leben am Puls des Kapitalismus, es sollte Risse bekommen.

"Während der Finanzkrise habe ich Zweifel an dem Ganzen bekommen", sagt Tessun rückblickend. Er begann, sich zu fragen, ob es nicht mehr im Leben geben müsse - und wagte eine Zäsur. Er verhandelte einen Auflösungsvertrag, packte einen Rucksack und reiste ein halbes Jahr lang durch die Welt. Als Tessun schließlich zurück nach Deutschland kam und viele Dinge neu sah und auch neu bewertete, plagte ihn auch eine sehr konkrete Frage. "Ich war zwar schon lange politisch interessiert. Aber irgendwie wusste ich plötzlich nicht mehr, wen oder was ich wählen sollte." Klar war allerdings, dass er sich zunehmend darüber aufregte, was in der Politik laufe. Und deshalb habe er einen Wahl-O-Mat befragt. Zu seiner Überraschung empfahl ihm der Algorithmus die ÖDP, "von der ich ehrlich gesagt gar nicht wusste, wer oder was das ist", so Tessun. Die Wahlempfehlung aber wiederholte sich, und Tessun begann, sich intensiver mit dem Wahlprogramm der kleinen Öko-Partei auseinanderzusetzen. Und was er da las, von der Ablehnung von Parteispenden bis hin zur Gemeinwohlökonomie, das erschien ihm sinnvoll. "Den letzten Ausschlag, mich politisch zu engagieren, hat dann die Geburt meiner Tochter gegeben", erzählt der 43-Jährige. "Ich möchte ihr etwas hinterlassen, eine intakte Welt."

Bildet einen Teil der neuen Doppelspitze der Ökologisch-Demokratischen Partei im Landkreis: Manuel Tessun. (Foto: Hartmut Pöstges)

Er zog mit Frau und Kind raus aufs Land, nach Egling, und arbeitet heute als selbständiger Sachverständiger für Immobilien im Deutschen Gutachter- und Sachverständigenverband. Als die jüngsten Kommunalwahlen langsam ihre Schatten vorauswarfen, wandte sich der damalige Kreisvorsitzende der ÖDP, Jan-Philipp van Olfen, an das relativ neue Mitglied Tessun. Ob er nicht für die Kreistagsliste kandidieren wolle? Tessun überlegte - und sagte zu. "Wenn ich mich für etwas entscheide, dann ganz", sagt er. Auch, dass er nach und nach ganz oben an die Spitze der Liste wanderte, war für ihn deshalb "in Ordnung". Letztlich hat er bei der Kommunalwahl den Einzug in den Kreistag zwar knapp verpasst - mit zwei Sitzen errang die ÖDP aber dennoch einen Erfolg. Vor allem, dass sich die Mitgliederzahl inzwischen auf mehr als 50 verdoppelt hat, führt Tessun auf das Engagement der ÖDP im Wahlkampf zurück. Nachdem van Olfen inzwischen auf höherer Ebene agiert - er wurde kürzlich zum Dritten Bundesvorsitzenden gekürt - hat der Kreisverband eine neue Spitze bestimmt. Die Wahl fiel auf Tessun.

Doch der 43-Jährige leitet die ÖDP im Landkreis nicht alleine. Ihm zur Seite steht Achim Schäfer als Stellvertreter. Ursprünglich aus Kehl am Rhein folgte Schäfer seiner Ehefrau nach Kochel am See, wo er seit 1979 lebt und drei Kinder großzog. Seine Laufbahn begann Schäfer als Bürokaufmann, wechselte aber in den öffentlichen Dienst und war am Oberlandesgericht tätig. Etwa 27 Jahre lang war er dort Vorsitzender des Personalrats und hat sich "immer für die Belange anderer eingesetzt", wie er sagt. Auch er kam zur ÖDP, weil er "schon lange eine Partei gesucht hat, in der der Lobbyismus nicht so zum Tragen kommt". 2017 weckte die ÖDP sein Interesse, ein Jahr darauf entschloss er sich zur Mitgliedschaft.

Gemeinsam mit Manuel Tessun hat Achim Schäfer viel vor, unter anderem die Neugründung von mindestens fünf Ortsverbänden. (Foto: Hartmut Pöstges)

Ursprünglich wollte er zwar im Kreisverband lieber im Hintergrund bleiben. "Als Personalrat habe ich es aber lange mitangesehen, wie es ist, niemand Geeigneten zu finden. Daran darf etwas nicht scheitern", beschloss er und stellte sich für die Verbandsleitung zur Verfügung.

Mit Tessun stimmt er sich nun regelmäßig ab, denn sie haben ein großes Ziel: Die ÖDP im Landkreis und darüber hinaus bekannter zu machen und den Kurs der Politik auf allen Ebenen mitbestimmen. Als Schwerpunkte für die kommenden zwei Jahre benennen Schäfer und Tessun die Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft, die Umsetzung regionaler Energieversorgung sowie das Forcieren einer menschlichen Bindungs- und Bildungspolitik. Zwei weitere Themen rücken sie zudem besonders in den Fokus: die Gemeinwohlökonomie und die Mobilfunktechnologie 5 G. Zu Ersterem zitieren beide Artikel 151 der bayerischen Verfassung: "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten." Wirtschaft und Industrie müssten sich in Augen von Tessun und Schäfer in eine Richtung bewegen, die das erfüllt - und das sei sogar besonders gut auf regionaler Ebene umsetzbar, zum Beispiel durch steuerliche Anreize, sind beide überzeugt. "Es soll dem am besten gehen, der am besten dem Gemeinwohl dient", fasst Tessun zusammen. Die Mehrung von Geld dürfe nicht länger das Ziel sein, sondern Geld müsse als Nutzmittel erkannt und eingesetzt werden. Mit einem solchen Ansatz ließen sich auch viele regionale Kreisläufe aufbauen und einige große soziale und Umwelt- und Klimaschutzziele erreichen, quasi als Synergieeffekt.

Ein anderes Thema, das sie umtreibt und das sie kritisch sehen, ist der neue Mobilfunkstandard 5 G. Hier würde eine neue Technik installiert, ohne sie vorher auf Unbedenklichkeit geprüft zu haben. "Viele können die Frage auch nicht beantworten, ob es das wirklich braucht?", sagt Schäfer.

Überlegungen, wie ihre Ziele zu erreichen sind, soll es in den kommenden zwei Jahren in mindestens fünf neuen Ortsverbänden geben, deren Gründung sie anpeilen: in Bad Tölz, Wolfratshausen, Kochel am See, Benediktbeuern und Lenggries. Die neue Spitze des Kreisverbands möchte darüber hinaus die Vernetzung mit anderen Kreisverbänden im Oberland voranbringen. Damit die Ökopartei generell präsentier wird, soll es in regelmäßigen Abständen an unterschiedlichen Orten im Kreis Themenstammtische geben. Freilich, das war vor dem Lockdown. Die Pandemie aber hält sie nicht ab, große Räder bewegen zu wollen - zu gegebener Zeit eben: "Mit voller Kraft zu etwas Besserem", wie Tessun sagt.

© SZ vom 15.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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