Mitten in Wolfratshausen:Oh Pünktlichkeit, deutsche Tugend

Über den öffentlichen Nahverkehr und gute Erziehung

Von Jakob Steiner

Pünktlichkeit wird in Deutschland schon immer groß geschrieben. Gotthold Ephraim Lessing behauptete einst: "Bester Beweis einer guten Erziehung ist die Pünktlichkeit." Dass dies in Zeiten von Elbphilharmonie und Berliner Flughafen nicht mehr gar so genau genommen wird, verwundert nicht. Aber schon die lange Bauzeit des Kölner Doms deutete vor Hunderten von Jahren auf eine mutmaßlich schlechte Erziehung der Bauherren hin.

Der öffentliche Nahverkehr drängt sich seit jeher mit Verspätungen in die Schlagzeilen. Doch einer war davon fast immer ausgenommen: der Bus. Nicht von Schienenvereisung, Stromausfällen und Störungen betroffen, erfreut er sich eines unbeschwerten Daseins und zeigt als Schienenersatzverkehr: Auf ihn ist Verlass. Es kann allerdings durchaus vorkommen, dass der Busfahrer - um ja nicht verspätet ans Ziel zu gelangen - zu früh losfährt. Mit anklagendem Blick und Tippen auf eine imaginäre Armbanduhr kann man ihn jedoch zum Anhalten bringen, wenn man ihm noch durchaus rechtzeitig entgegen eilt.

Beim darauffolgenden Aufeinandertreffen ist die Situation umgekehrt. Da der Zug mit Verzögerungen im Betriebsverlauf zu kämpfen hatte, wähnt man den Bus sicher verpasst. Der Busfahrer fährt - selbstverständlich - pünktlich los, stoppt allerdings für den Verspäteten, der sichtlich erleichtert ist. Mit vorwurfsvollem Blick und energischem Tippen auf eine tatsächliche Armbanduhr begrüßt der Busfahrer den Fahrgast. Hervorragende Erziehungsarbeit, wenn es nach Lessing ginge.

© SZ vom 04.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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