Mitten in Bad Tölz:Klavierkonzert im Schneetreiben

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Man muss kein Gleitschirmflieger sein, um das Extreme zu meistern

Kolumne von Klaus Schieder

Es gibt Leute, die das Extreme lieben. Ihnen reicht es nicht, zum Beispiel mit einem Gleitschirm zu Tal zu segeln, sie müssen dabei auch noch gefährliche Flugfiguren wie Wingover und Steilspiralen ausführen. Oder sie stürzen sich als Mountainflyer in einem wenig Vertrauen erweckenden Spezialanorak von Bergspitzen in die Tiefe, sie tauchen durch enge, lichtlose Höhle, sie fahren mit dem Fahrrad die Badstraße in Bad Tölz hoch und runter.

Zu dieser Spezies gehören Straßenmusikanten in aller Regel nicht. Sie gleichen eher den Uhrenfiguren, die sich nur bei schönem Wetter nach draußen wagen. Und die Stücke, die sie dann spielen, sind meist alles andere als gewagt. Kein Hindemith, kein später Schönberg, eher so La paloma, El cóndor pasa oder die Filmmelodie aus "Der Pate", man kennt das ja alles bis zum Abwinken. Umso befremdlicher war nun, dass sich ein Musikant mitten zwischen die hohen Schneehaufen in der Tölzer Marktstraße gesetzt und auf einem fahrbaren Piano eine halbe Stunde lang gespielt hat. Was genau, war im Knirschen und Kratzen der kleinen Räumfahrzeuge und Schneeschaufeln ringsum schwer zu sagen.

Da hockte er gebückt in Kapuze und Anorak, hatte einen aufgespannten Regenschirm an seinem zweirädrigen Piano befestigt und die Notenblätter in Schutzhüllen gesteckt, ließ die behandschuhten Finger über die Tasten laufen. Alldieweil hasteten vermummte Passanten an ihm vorbei, nur wenige drehten ob der ungewohnten Klänge im Schneetreiben den Kopf zur Seite, noch weniger eilten herbei und spendierten ihm eine Münze. Dabei erweckten sie den Eindruck, als täten sie dies aus vor allem aus Mildtätigkeit, nicht so sehr aus Respekt vor der künstlerischen Qualität. Schließlich blieb auch von ihnen keiner stehen und hörte wenigstens eine Minute lang zu. Aber vielleicht war das dem Pianisten völlig egal. Er spielte und spielte, der Schnee fiel und fiel, die Schneeschaufel kratzte und kratzte. Auch unter Straßenmusikanten gibt es eben Leute, die das Extreme mögen.

© SZ vom 10.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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