Es ist der Abend des 9. Novembers 1989. Politikstudent Patrick Ott, 22 Jahre alt und im ersten Semester, sitzt in seiner Studentenbude in München und kann die Augen nicht vom Fernseher abwenden. Gerade berichtet die Tagesschau von Günter Schabowskis denkwürdiger Pressekonferenz in der DDR. Die Grenze ist offen.
"Schlagartig kam mir der Gedanke, dass das einer dieser historischen Momente ist, von denen die Eltern immer erzählen, so wie die Ermordung von Kennedy", erinnert sich der heute 52-Jährige. Er habe sich plötzlich die Frage gestellt, ob er wirklich einmal seinen Enkeln erzählen wolle, dass er den Mauerfall vor dem Fernseher verbracht habe. Lange überlegen musste er nicht. "Ich habe sofort bei einer Autovermietung angerufen und meinen Freunden Bescheid gegeben", sagt Ott. Zwischen neun und zehn Uhr nachts brachen sie nach Berlin auf, den Kofferraum voller Bier und Sekt.
Hinter der Grenze war auf der Autobahn der Teufel los: Hupende Trabis und Ladas fuhren gen Westen. Nach einer halben Stunde hielten die Freunde am Straßenrand, stießen mit völlig Fremden auf die Ereignisse an und fuhren weiter, bis sie in den frühen Morgenstunden in Berlin ankamen. Das Aufbruchgefühl der Nacht infizierte Patrick Ott. Mit einem Schmunzeln zieht er 30 Jahre danach einen schmalen blauen Ausweis mit der Aufschrift "Deutsche Demokratische Republik" hervor. Dort steht es schwarz auf weiß: Am 20. Juni 1990 wurde aus dem gebürtigen Baierbrunner ein Bürger der DDR - aus dem "Wessi" wurde noch in den letzten Monaten des geteilten Deutschlands ein "Ossi". Allerdings nicht etwa weil er plötzlich vom politischen System der DDR überzeugt gewesen wäre. Ott wollte mitgestalten, beim Aufbau demokratischer Strukturen helfen, so sagt er.
Von Januar 1990 an war er immer wieder in Sachsen und engagierte sich bald bei der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, kurz LDPD, zu der er durch persönliche Kontakte gekommen war. Er half bei der Gründung eines Jugendverbands der Liberalen, wohnte zur Untermiete und beteiligte sich im Kommunalwahlkampf 1990. Im Zuge dessen kam es zur Einbürgerung. "Ich wollte zeigen, dass ich mich der Politik in Sachsen komplett verpflichtet hatte", sagt der heute in Schäftlarn wohnende Unternehmer.
Im September 1990 zog er für die FDP als einer von vier Westdeutschen in den ersten sächsischen Landtag ein. "Das waren vier Jahre der besten Politik- und Rechtsausbildung, die ich mir hätte wünschen können", sagt Ott. Eine Verfassung und ungefähr 400 Gesetze hätten die 160 parlamentarischen Anfänger in einer Legislaturperiode durchgepeitscht.
Politisch aktiv in Sachsen war auch Willi Eisele aus Wolfratshausen nach der Wende. Für secheinhalb Jahre ging der Oberstudienrat nach Dresden, vorher hatte er am Gymnasium in Neubiberg Englisch und Geschichte unterrichtet. Eisele übernahm die Leitung der Abteilung Gymnasien im sächsischen Schulministerium. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls hatte er schon mehr als 30 Mal die Grenze überquert. Der passionierte Geschichtslehrer war von 1976 bis 1987 jedes Jahr drei bis vier Mal mit Schülern und Kollegen in die DDR gefahren. Der bürokratische Aufwand, den der Grenzübertritt jedes Mal mit sich brachte, sei riesig gewesen, erinnert sich der 73-Jährige an damals.
Er blättert in dem vor ihm liegenden Ordner mit alten Unterlagen und hebt einen Stapel Papier an. "75 Seiten Betreueranweisung haben wir bekommen, weitere Formulare nicht mitberechnet." Die mitfahrenden Schüler mussten nach DDR-Vorschrift mindestens den 16. Geburtstag vollendet haben. So kam es dann einmal zu der skurrilen Situation, dass in Willi Eiseles Pass zwölf Kinder mit unterschiedlichen Nachnamen standen. Die zwölf wurden erst ein paar Wochen später 16, konnten aber dank Eiseles unverhofftem "Kindersegen" trotzdem mitfahren.
Wenn der Wolfratshauser von solchen Spitzbübereien erzählt, mit denen DDR-Beamte ausgetrickst wurden, blitzt der Schalk aus seinen Augen. Vor allem spontane Abweichungen von den streng vorgegebenen Reiserouten hätten die ihnen zur Seite gestellten Reiseleiter zur Verzweiflung getrieben, sagt er. Eine solche Begebenheit wurde minutiös in Eiseles Stasi-Akte notiert. ",Bus außer Kontrolle' steht dort", liest er lachend vor.
Seine Schülergruppen hätten sich vom strengen Reglement der Reisen nie einschüchtern lassen. Diszipliniert und gut vorbereitet seien die Jugendlichen gewesen, sie hätten sich nicht gescheut, auch kritisch nachzufragen. Die Staatssicherheit, kurz Stasi, verfolgte die Gruppen dabei jedes Mal auf Schritt und Tritt. Bei Schülergruppen kamen laut Eisele auf 30 bis 40 Teilnehmer sieben Agenten, bei Lehrerfortbildungen sogar bis zu 17. Willi Eisele hat sich mehr als 700 Seiten aus seiner Stasi-Akte kopieren lassen, einen Bruchteil der Gesamtmenge. Sein Zimmer sei in den Jugendherbergen stets abgehört worden, sagt er. "Ich habe jedes Mal spontan im Bus noch mit dem größten Schnarcher das Zimmer getauscht", sagt der ehemalige Lehrer und grinst.
Patrick Ott, 52,...
...wurde kurz vor der Vereinigung DDR-Staatsbürger.
Willi Eisele, 73,...
...hat auf Klassenfahrten in die DDR viel erlebt und eine Stasiakte erhalten.
Rainer Schneider, 65,...
...saß zehn Monate in der DDR im Gefängnis und durfte 1974 ausreisen.
Mit der Stasi hat auch Rainer Schneider aus Pullach seine Erfahrungen gemacht. In Erfurt aufgewachsen, lebte er bis zu seinem 23. Lebensjahr in der DDR und konnte 1974 nach München ausreisen. Vorher hatte er zwei Jahre im Gefängnis verbracht, verurteilt wegen versuchter Republikflucht. Ein Stasi-Agent hatte ihn beschattet und schließlich verraten. Der Auslöser für den von vornherein zum Scheitern verurteilten Fluchtversuch sei ein bohrendes Gefühl von Aussichtslosigkeit gewesen, erzählt er.
"Ich habe Panik bekommen, dass meine Träume keine Zukunft mehr hatten", sagt der 65-Jährige. Seine Mutter habe im Westen gelebt, der ihm durch ihre Besuche, Pakete und Postkarten aus so fernen Ländern wie Italien immer wie das gelobte Land vorgekommen sei. Nach dem Schulabschluss sei ihm die Ausbildung zum Bierbrauer zugeteilt worden, die er auf keinen Fall machen wollte.
Dann kam der 13. Februar 1972. Frustriert setzte er sich nach der Arbeit in eine Gastwirtschaft und betrank sich. Ein Uniformierter setzte sich dazu, verwickelte ihn in ein Gespräch, eins führte zum anderen und Schneider begann über eine abenteuerliche Flucht zu sinnieren. "Schon einen Tag später hatte ich das Gefühl, ständig verfolgt zu werden", erzählt der gebürtige Erfurter. Seine Geschichte schildert er routiniert und im bairischen Dialekt, nur hin und wieder ist ein leichter Anflug der Thüringer Mundart zu hören. Er ist es gewohnt, über sein Leben zu erzählen. Für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist er regelmäßig für Zeitzeugengespräche in Schulklassen.
Es kam, wie es kommen musste. Schneider spricht nun schneller, gestikuliert viel. Obwohl er eigentlich zuerst nach Dresden zu seiner Freundin reisen wollte, wird er noch am Bahnhof verhaftet. Sechs Männer stürzen sich auf ihn. Er kommt in Haft, wird am 5. Mai 1972 verurteilt und muss für zehn Monate ins Jugendgefängnis. Die Bedingungen dort seien brutal und voller Gewalt gewesen, sagt er.
Nach seiner Entlassung heiratet Rainer Schneider seine Freundin und stellt den ersten Ausreiseantrag. Als der vierte Antrag 1974 genehmigt wird, fühlt er sich, als hätte er einen Sechser im Lotto gewonnen. Am 17. Oktober 1974 sitzt er mit seiner Familie im Zug nach München - 15 Jahre vor dem Mauerfall.