Lesen unter freiem Himmel:Freier Eintritt in die Fantasiewelt

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Beim StadtLesen in Bad Tölz kann man sich bequem in andere Welten entführen lassen. Die Veranstalter wollen mit der Aktion Passanten zum genussvollen Bücherschmökern animieren

Von Nora Schumann, Bad Tölz

Rote und schwarze Sitzsäcke inmitten von historischen Häusern, Straßencafés und Touristen, dahinter hohe Bücherregale. Was aussieht wie ein über Nacht entstandenes Wohnzimmer in der Marktstraße von Bad Tölz ist die Initiative StadtLesen. Zum zweiten Mal können literaturliebende Passanten im Rahmen des StadtLesens hier verweilen, schmökern und die eigene Fantasie auf Reisen gehen lassen.

"Ich lese Michelle Obama", sagt eine Frau in rotem Sitzsack und deutet auf das Buchcover, "wenn es mir gefällt kaufe ich es". "Das ist richtig, zum Gebrauchtpreis kann man die Bücher hier bei uns auch kaufen", bestätigt Sophie Mayr, die als Praktikantin beim StadtLesen arbeitet. "Kann man hier auch eigene Bücher lesen?", fragt eine Passantin und schwenkt einen Schmöker. "Aber sicher, das können Sie gerne", erwidert Mayr.

Auf den Sitzsäcken und in den Hängematten tummeln sich Menschen jeden Alters, eine Gruppe Jugendlicher unterhält sich lautstark im Kreis. "Ich lese nicht, aber ich halte eine Predigt, warum man nicht rauchen sollte", sagt einer von ihnen lachend. Direkt daneben sitzt eine junge Frau mit Kind "Ich finde die Aktion toll", sagt sie. "Das ist mal was anderes und es ist mal was los. Hier mitten drin zu liegen und zu lesen ist schon etwas Besonderes." Auch eine Gruppe von Schülerinnen hat sich eingefunden, statt ins Smartphone schauen die drei konzentriert ins Buch. "Wir sind heute morgen vorbeigekommen, und haben gesagt: Komm, da gehen wir in der Mittagspause hin", erzählt eine von ihnen. Zwei der Jugendlichen haben ihre eigenen Bücher dabei, die dritte Schülerin hat sich Lektüre aus dem StadtLesen-Regal genommen.

In der Marktstraße von Bad Tölz kann man sich beim StadtLesen seit Donnerstag in schwarzen und roten Kissen fläzen und gemütlich in schönen Büchern schmökern. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Das StadtLesen ist eine Initiative aus Österreich. Die Initiative finanziert sich über Wirtschaftsförderer, auch die beteiligten Städte schießen einen kleinen Teil zu. "Wir wollen Menschen zum Lesegenuss bringen", sagt Gründer und Ideengeber Sebastian Mettler, "und den Zugang zum Buch niederschwellig gestalten". Mettler beklagt die zunehmend mangelnde Fantasiefähigkeit der Menschen, unter anderem infolge der "neuen Medien". Anders als beim fertigen Bild auf Instagram müsse man beim Lesen noch codieren und decodieren. Er habe zudem in Österreich eine gesellschaftliche Mode entdeckt, die er selbst "Kronenzeitungseffekt" nennt. Menschen würden sich mit dem öffentlichen Zeigen von Literatur, die für intellektuell gehalten wird, ein Image des intelligenten Bürgers verschaffen. "Sie lesen dann die Kronenzeitung eingewickelt in den Standard oder eben die Bild eingewickelt in die Süddeutsche, erklärt Mettler. Mit der niederen Hemmschwelle beim Stadtlesen versuche man auch jene Menschen an Bord des Lesevergnügens zu holen, die sich sonst nur damit brüsten. "Wir wolle Verballeser zu Reallesern machen", sagt Mettler. Das funktioniert seinen Angaben zufolge gut, anhand der Gästebucheinträge sei ablesbar, dass immer wieder Menschen einen neuen Zugang zu Büchern fänden. An einen Eintrag erinnert sich Mettler noch genau: "Ein Vater schrieb, dass er seinem 12-jährigen Sohn beim StadtLesen das erste Mal überhaupt vorgelesen hatte", berichtet Mettler.

Jede Stadt kann von Bürgerinnen und Bürgern für das Stadtlesen im Internet nominiert werden. Je mehr Menschen ihre Stadt nominieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass die jeweilige Gemeinde für das StadtLesen ausgewählt wird. Bad Tölz hat es nach 2017 zum zweiten Mal geschafft, als Lesestadt ausgewählt zu werden.

Dass viele der Leser nicht wissen, dass man die Bücher käuflich erwerben kann, sei auch so gewollt, erklärt Mettler. Der Verkauf der Bücher sei nie Teil des Konzepts gewesen. Da im Laufe der Jahre aber viele Menschen ein bestimmtes, angefangenes Buch hätten kaufen wollen, biete man heuer bei Nachfrage auch den Erwerb der Lektüre an. "Ich war heute morgen hier und habe dieses Buch gesehen", sagt eine ältere Dame namens Vroni Herold und deutet auf ihre Lektüre, "da hab ich gesagt, ich hole mir was von zu Hause zu trinken und komme wieder". Sie blättert durch die letzten Seiten. "Ich lese das jetzt zu Ende und dann suche ich mir ein anderes, das ich kaufen will."

Das StadtLesen in Bad Tölz findet noch dieses Wochenende, 13./14. Juli, täglich ab 9 Uhr in der Marktstraße statt. Begleitend finden mehrere Veranstaltungen wie Lesungen und Literaturkreise statt. Nähere Infos zum Programm unter www.stadtlesen.com/lesestaedte/bad-toelz

© SZ vom 13.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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