Lese-Performance in Bad Tölz:Den Schmerz zulassen

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Claudia Fischer, Sabrina Hohmann (Mitte) und Stephan Conrady wollen Menschen aus ihrer gewohnten Betroffenheitsecke holen. (Foto: Manfred Neubauer)

Die Lese-Performance "Aleppo-Tourette" bietet Stoff zum Nachdenken

Von Petra Schneider, Bad Tölz

Seit fünf Jahren herrscht Krieg in Syrien. Man hat sich daran gewöhnt, Menschen beim Sterben zuzusehen - und geht zur Tagesordnung über. Die Stadt Aleppo ist zum Symbol für Leid und Zerstörung geworden. Wie ein unkontrollierbarer Reiz taucht sie in den Nachrichten auf, immer und immer wieder. Und der Zuschauer? Unterdrückt seine Erschütterung wie ein Tourette-Kranker seine unerwünschten Tics. "Aleppo-Tourette" haben die Künstler Sabrina Hohmann, Claudia Fischer und Stephan Conrady deshalb ihre Lese-Performance betitelt, die am Freitag im Eichengrund gezeigt wurde. Es ist ein Versuch, durch Texte, Musik und Bilder "den Schmerz freizugeben" und unerwünschte Gefühle zuzulassen. "Menschen aus ihrer gewohnten Betroffenheitsecke rauszuholen", wie Hohmann erklärt.

Gut 20 Zuschauer hat die Veranstaltung mit dem rätselhaften Titel in den Kulturraum von Johanna Zantl gelockt. Sie klatschen nach der knapp einstündigen Performance begeistert, viele bleiben noch auf ein Glas Wein und tauschen sich aus. Denn was sie zu sehen und zu hören bekommen haben, ist keine leichte Kost. Die Texte sind anspruchsvoll, sie fordern eine intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung: Gedichte aus dem Orient, ein Text der britischen Forschungsreisenden Gertrude Bell aus dem Jahr 1905. Ein SZ-Artikel über den Dichter und Orientalisten Friedrich Rückert, Berichte aus dem Netz, persönliche Gedanken der beiden Künstlerinnen. Die Texte umkreisen den Kristallisationspunkt Aleppo mehr oder weniger eng - thematisieren Orient, Flüchtlinge, Sterben. Viel Stoff zum Nachdenken. Man kann sich aber auch einfach dem Zauber der orientalischer Musik hingeben, die Conrady seinen Lautsprechern entlockt, und den poetischen Beschreibungen der Wüste und ihrer Bewohner lauschen. Denn was an diesem Abend dominiert, ist nicht das Grauen des Krieges, sondern die Trauer über den Verlust einer reichen Kultur und ihrer Menschen.

Vor zweieinhalb Jahren hat Johanna Zantl den Kultur- und Begegnungsraum eröffnet und den "Eichengrund" dem Besonderen gewidmet: Einmal im Monat gibt es in dem kleinen Raum ausgewählte Filme, besondere Musik, ungewöhnliche Lesungen. An der Wand wachsen Gräser aus Gedichten, die Hohmann dem Eichengrund zur Eröffnung eingeschrieben hat. Im Raum verteilt stehen am Freitag kleine Kalenderbilder mit Ansichten aus dem Isarwinkel. Auf der Rückseite der Idyllen Chroniken des Grauens: Der Krieg in Syrien, akribisch aufgelistete Bombenanschläge und Giftgasattacken. Das Licht wird gedimmt, Musik und eine fremde Sprache erfüllen den Raum, Hohmann schneidet Papier fein säuberlich in Streifen - denn auch die Wirklichkeit muss beschnitten und reduziert werden, um ihrer Komplexität Herr zu werden.

Die Texte, die die Wackersberger Künstlerin und die Münchner Kunstphilosophin recherchiert und gesammelt haben, verbinden sich mit Musik und Performance-Elementen zu einem Gesamtkunstwerk. Da werden Patiencen gelegt und beim "Auftrumpfen" arabische Volksstämme gegen bayerische Regionen ausgespielt, vom Handy Fake-News und manifeste Vorurteile abgespielt: Von den blonden Töchtern, die man nicht mehr nach Tölz lasse, wegen der Flüchtlinge. "Da werd' i lieber von einem Deutschen vergewaltigt, wie von einem Asylanten" zitiert Hohmann Einlassungen, die sie tatsächlich so gehört haben will. Oder es wird ein TV-Interview wiedergegeben, bei dem eine türkische Frau den Reporter erbost fragt: "Es geht Ihnen doch gut hier. Warum interessieren Sie sich für Kriege in anderen Ländern?"

Hohmann gibt eine Antwort: Weil dieser Krieg die Schätze und Kultur eines Landes zerstöre. "Sie nehmen das auch mir weg". In einem Augenzeugenbericht wird die verheerende Auswirkung einer Fassbombe geschildert: Sie verstümmelt einen 20-jährigen Mann, "der wie ein Hase hoppelte". Die Lese-Performance endet mit einem maurischen Gedicht aus dem 13. Jahrhundert. Es strahlt aus der Vergangenheit, wie eine Utopie: "Mein Wesen ist Sonnenglanz. Es leuchtet aus mir auf mich, und in mir liebe ich mich."

© SZ vom 27.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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