Lenggries:Mittlerin der Inklusion

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Ilse Raeder setzt sich für behinderte Menschen ein

Von Petra Schneider, Lenggries

Ilse Raeder hat einmal bei der Lebenshilfe gesagt: "Ehrenamt ist eine Aufgabe, die einen manchmal findet. Und manchmal sucht man sie sich auch". Das entspreche ihrer Erfahrung. Die 71-Jährige hat sich viele Aufgaben gesucht: Sich um alte Menschen gekümmert, Tanzgruppen und Lesekreise gegründet. Sie singt in zwei Chören und spielt in diversen Ensembles Flöte und Klarinette. Seit einiger Zeit gibt sie Flüchtlingen Deutschunterricht und zwei Grundschulkindern Nachhilfe. Sie ist Mitglied im Gartenbauverein und beim Bund Naturschutz.

Ihre Lebensaufgabe wuchs ihr zu: Die mittlere ihrer drei Töchter ist geistig behindert. Sie hat epileptische Anfälle und braucht bei fast allem Hilfe. 44 ist sie inzwischen und wohnt im Wohnheim "Wünschelwald" in Geretsried. "Für ein behindertes Kind ist man bis zu seinem Lebensende verantwortlich", sagt Raeder. Eine Aufgabe, die sie und ihr Mann, der vor seiner Pensionierung Pfarrer in Geretsried war, gemeinsam schultern.

Für Ilse Raeder ist daraus viel mehr geworden; die Liste der Gruppen und Initiativen, die sie seitdem für behinderte Menschen gegründet hat, füllt eine ganze Seite: Dazu gehört ein Freizeitclub für geistig Behinderte und Nichtbehinderte mit wöchentlichen Treffen und jährlichen Wochenendfahrten, den Raeder 1983 in Geretsried gegründet und 22 Jahre lang organisiert hat. Dazu gehört das Bildungsprogramm "Ich bin dabei", das sie 1996 initiiert und geleitet hat; ein Zusammenschluss katholischer und evangelischer Kirchengemeinden, Bildungswerke und der Lebenshilfe mit dem Ziel, spezielle Angebote für behinderte Menschen anzubieten. Inzwischen sei diese Aufgabe von der offenen Behindertenarbeit des Landkreises übernommen worden, sagt Raeder.

Ilse Raeder ist seit mehr als 30 Jahren bei der Lebenshilfe aktiv. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Vor sechs Jahren hat sie die Lebenshilfeband "Miasanmia"-Musi gegründet. Momentan spielen sie zu fünft, zwei behinderte Menschen an der Trommel und am Schlagzeug. Raeder ist Mitinitiatorin des "Arbeitskreises Seelsorge", um Behinderten religiösen Beistand zu ermöglichen. Seit 1982 ist sie bei der Lebenshilfe Bad Tölz-Wolfratshausen, von 2004 bis 2011 als Mitglied im Vorstand. Sie war im Elternbeirat der Von-Rothmund-Schule und Beirat der Wohnheime in Geretsried.

Wie viel Zeit sie in all diese Aufgaben investiert, weiß sie gar nicht genau. Da müsse sie erst auf ihren Terminkalender schauen, "aber vier Termine die Woche sind das mindestens"", sagt die 71-Jährige, die jünger wirkt und gerne lacht. Warum dieses große Engagement, neben der Familie und der Betreuung ihrer behinderten Tochter? "Ich habe Dinge organisiert, weil ich dachte, das fehlt und das wäre gut", sagt sie schlicht. Für geistig Behinderte habe es in den 1970er -Jahren fast keine Angebote gegeben. Keine Förderschulen, keine Wohnheime, keine Freizeitangebote. Geschweige denn Ansätze in Richtung Inklusion. "Geistigbehinderte Kinder galten als nicht beschulbar. Die hat man eher versteckt." Das habe sich dank des Engagements von Eltern und Lehrern sehr zum Positiven verändert, sagt Raeder. Sie will sich weiter engagieren, denn noch sei das Ziel nicht erreicht: "Dass Menschen mit Behinderungen selbstverständlich in unsere Gesellschaft gehören." Je mehr Kontakte entstünden, desto normaler werde auch der Umgang zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten. Dass sie nun mit der Isar-Loisach-Medaille ausgezeichnet wird, freut Raeder: "Ich finde es richtig, dass das Ehrenamt gewürdigt wird". Obwohl es für sie selbstverständlich sei, sich einzubringen. "Denn als Staatsbürger dürfen wir doch nicht nur fordern." Außerdem könne man aus sozialem Engagement auch Gewinn ziehen: Freundschaften, schöne, gemeinsame Erlebnisse, auch Anerkennung.

Ilse Raeder ist in einer Kleinstadt in Hessen aufgewachsen, hat in Nürnberg und München einige Semester Pharmazie und Pädagogik studiert und eine Ausbildung zur pharmazeutisch-technischen Assistentin gemacht. Vor zehn Jahren sind die Raeders von Geretsried nach Lenggries gezogen. Wenn man sie nach einem besonders schönen Erlebnis fragt, muss sie nicht lange überlegen. Der Musik- und Tanzabend kürzlich im Alpenfestsaal: 120 Leute, Behinderte und Nichtbehinderte, die gemeinsam getanzt und gefeiert hätten. "Das war ein beglückendes, anrührendes Erlebnis."

© SZ vom 04.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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