Dienstagmorgen, erste Stunde. Statt der Religionslehrerin kommt der Direktor in die 10e. Auch er unterrichtet katholische Religionslehre, er hat sich diese Stunde eigens geben lassen, um mit den Schülern über eine ähnliche, damals zufällige Vertretungsstunde ein paar Tage zuvor zu reden. In dieser Vertretungsstunde soll er vor den Schülern einen ihrer Lehrer beschuldigt haben, gegen ihn, Eder, zu hetzen. Dieser Lehrer bekennt sich zu seinem Atheismus, und die Schüler wollen aus dem Mund ihres Rektor den Satz "Atheisten sind dumm" vernommen haben. Seitdem herrscht Aufregung nicht nur in der 10e. Was sich nun am 12. November 2014 von 7.56 Uhr bis 8.42 Uhr in der 10e der Realschule Geretsried abspielt, macht die Aufregung nicht kleiner.
Der Rektor, Armin Eder, steht zu seinem Satz über die Dummheit der Atheisten, will aber damit nicht den Lehrer gemeint und zu der Zeit auch gar nichts von dessen atheistischer Überzeugung gewusst haben. Dass der Lehrer gegen ihn hetze, habe er nicht gesagt. Doch die Schüler bleiben bei ihrer Darstellung und fordern vom Rektor eine Entschuldigung. "Ich frage jetzt mal einzeln ab, ob ich das gesagt habe", kündigt der Schulleiter an und tut genau das. Und zwar "direkt", wie es im Protokoll heißt. Zwei Schüler waren in der besagten Stunde nicht da, alle anderen erklären jeder einzeln, den Satz so gehört zu haben. Eine Schülerin macht die Situation zwischen unterlegenen Schülern und übermächtigem Schulleiter zum Thema, doch der lässt nicht ab, sondern schreibt den Satz an die Tafel, der betreffende Lehrer habe "keine Schüler gegen mich aufgehetzt". Die Schüler stimmen dem zu, doch darum gehe es ja gerade gar nicht. Die Unterschrift, die der Rektor von ihnen fordert, wollen sie deswegen nicht unter den Satz setzen, und auch nicht unter die beiden miteinander kombinierten Aussagen des Schulleiters: "Atheisten sind dumm" und "Ich wage es nicht, jemanden dumm zu nennen". Zwei Schülerinnen unterschreiben am Ende nicht die Sätze, sondern nur den Vermerk "gesehen".
Das Protokoll, das den Verlauf dieser Stunde dokumentiert, hat die Vertrauenslehrerin geführt und geschrieben, sie und Eder haben es unterzeichnet. Inzwischen kursiert es unter Schülern, Eltern und Lehrern und wurde der SZ in den vergangenen Wochen von mehreren Seiten unabhängig voneinander zugespielt. Wer Eltern oder Lehrer auf das Protokoll anspricht, spürt Stolz und Respekt für die Schüler der 10e, hört vieles über den Geist der Geretsrieder Realschule, der junge Menschen ermutige, in dieser Weise Haltung zu zeigen. Und der schon seit längerer Zeit bedroht sei durch einen anderen Geist, den der Schulleiter für sehr viel heiliger hält.
Eder kam zum Halbjahr 2013 aus Schongau an die Realschule Geretsried. Die war bis dahin ein Jahr lang von den beiden Stellvertretern geführt worden, nachdem Eders Vorgänger Stephan Deller an der Schule nicht zurechtgekommen und nach einer mehrmonatigen Leidensphase versetzt worden war. Nicht viele Realschullehrer drängt es, Schulleiter zu werden. Zu gering ist mittlerweile das Gehaltsplus im Vergleich zur Verantwortung. Doch manche schätzen auch das Plus an Befugnissen und den Umstand, dass einem bayerischen Schulleiter nicht viele Menschen dreinreden dürfen. Es habe damals jedenfalls "eine genügend große Anzahl von Bewerbern" gegeben, heißt es vom Kultusministerium. Und der neue Schulleiter hat dann gleich klar gemacht, dass er in den Klassen Kreuze haben will, berichten Lehrer, die aus Angst vor dienstrechtlichen Konsequenzen nicht namentlich genannt werden wollen. Solche Kreuze hatte es an der Schule noch nie gegeben, seit sie Anfang der 1970er Jahre zusammen mit dem benachbarten Gymnasium versuchsweise als Gesamtschule gegründet und sogleich von allen Konservativen misstrauisch beäugt worden war. Das durchaus selbstbewusste Geretsrieder Lehrerkollegium empfand Eders Kreuze als Zumutung und lehnte sie mit großer Mehrheit ab. Doch Eder organisierte sich Mehrheiten für die Kreuze per Elternfragebogen und Schüler-Abstimmung. Die Diskussion über die Frage, ob eine Abstimmung im Elternbeirat mit fünf Ja-Stimmen und drei Enthaltungen "einstimmig" ausgegangen ist, wie Eder dem skeptischen Kollegium verkündet hatte, führte am Ende zu einem Zutrittsverbot für den damaligen Elternbeiratsvorsitzenden Peter Schneider im Lehrerzimmer. Am 12. November 2013 wurde Eder dann in Augsburg zum Diakon geweiht. Er lebe "seit 1990 in direkter Nachbarschaft der Wieskirche und des gegeißelten Heilands, der in ihm 'viele Wunder bewirkt' habe", heißt es in einem Porträt Eders, welches das Bistum Augsburg aus diesem Anlass veröffentlicht hat.
In Geretsried hat es nach dieser Diakon-Weihe mehrere Wochen gedauert, bis Eder sich davon überzeugen ließ, in der Schule nicht mehr das Kollar der Kleriker anstelle der Krawatte zu tragen. Von da an trug er nur noch das Hemd, den weißen Streifen soll er sich nach der Schule manchmal noch am Parkplatz in den Priesterkragen genestelt haben, versichern Augenzeugen.
Komplett in Albe und Stola trat Eder beim Adventsbasar der Schule auf, um persönlich die 27 neuen Kreuze zu segnen, und auch die Umstehenden, die die Zeremonie inmitten all des Trubels teilweise eher irritiert verfolgten, bekamen einiges Weihwasser ab. Die Kreuze aber hingen kurz darauf in den Klassenzimmern, über Nacht vom Rektor persönlich fest verdübelt und nur manche ein wenig exzentrisch positioniert, wie es die beiden Hausmeister wohl eher nicht gemacht hätten. Sie sind gleichschenklig und die meisten orangerot, was schon einige Scherze über Verbandskästen nach sich gezogen hat.
Die übrigen Folgen wiegen da schwerer. So hat sich etwa der Gründungsrektor der Schule, Rudolf Zins, in Baierbrunn an die Schreibmaschine gesetzt und seinen fernen Nachfolger in einem offenen Brief gebeten, die Kreuze wieder abzuhängen. Zins erinnert in den Schreiben daran, dass sich auch nicht-christliche Schüler wohlfühlen sollten an der Geretsrieder Realschule, die "als weltoffene, tolerante Erziehungs- und Bildungsstätte geschätzt und anerkannt war". Zins sieht sich "in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, in Hundhammers Bekenntnisschule zurückversetzt" und fügt einen Satz an, den an der Schule viele unterschreiben würden: "Nicht missionarischer Eifer oder Fanatismus, sondern Toleranz fördert ein verständnisvolles Miteinander und sichert nachhaltig den Schulfrieden und eine lebendige Schulgemeinschaft." Diesen Brief hat den Kollegen dann jener Lehrer der 10e vervielfältigt, der sich später Eders Hetz- und Atheismus-Vorwürfen ausgesetzt sah. Fürs ganze Kollegium gab es zum Gebrauch des Schulkopierers eine schriftliche Dienstanweisung - nicht die einzige aus Eders Rektorat.
Sogar der Förderverein des Schule sah sich Anfang dieses Jahres schon per Sitzungsprotokoll zu der Feststellung veranlasst, dass er vom Schulleiter keine Dienstanweisungen entgegennehme - schon gar nicht wegen des Verbots, Schülern für gute Noten in Schulaufgaben weiterhin eine kleine Tüte Gummibärchen zu spendieren, wie es der Förderverein bis dahin viele Jahre lang gemacht hatte und noch immer tut, solange der Vorrat reicht. Dann soll es Süßes aus dem Weltladen geben. Der Förderverein besteht überwiegend aus Menschen, die sich der Schule verbunden sehen, aber keine Disziplinarmaßnahmen des Schulleiters gegen Kinder oder Ehepartner befürchten müssen. Hier lassen sich Eders Kritiker auch mit Namen zitieren wie Peter Schneider, der vom Elternbeirat an die Spitze des Fördervereins gewechselt ist. Er erinnert daran, dass Eder auch bei anderen Gelegenheiten Probleme mit der Wahrheit gehabt habe. So habe er den Schülern und Eltern neue Spinde aufgenötigt mit der Aussage, das Landratsamt fordere diese aus Sicherheitsgründen. Das Landratsamt habe davon aber gar nichts wissen wollen. Ein Ultimatum zur Entfernung der Spinde ist mit der Pensionierung des Sachbearbeiters in der Kreisbehörde Ende März 2014 verstrichen. "Den sitze ich aus", will Schneider Eder über den Sachbearbeiter sagen gehört haben.
Eder selbst zeigt sich angesichts all dieser Vorwürfe so verbindlich und freundlich, wie er stets auftritt. Die dummen Atheisten leitet er aus Psalm 53 in der Bibel ab, aber eine Missionierung an der Schule habe er weder im Sinn noch jemals im Sinn gehabt. Die Kreuze seien bewusst gleichschenklig und ohne Korpus des Gekreuzigten, also gerade keine Kruzifixe, wie man es ihm vorhalte. Er wolle die Kreuze als religionsübergreifende Symbole nicht nur für Gott und für christliche, sondern auch für allgemein abendländische Werte und für den Weltethos verstanden wissen, sagt er. Der Auftritt in der 10e sei in der Rückschau "ein Käse" und "ein Fehler" gewesen. Er würde das nicht noch einmal so machen und auch nicht alle Schüler der Reihe nach herausgreifen, was eigentlich nur geschehen sei, um nicht nur mit einigen wenigen zu debattieren, sondern alle zu Wort kommen zu lassen. Er könne sich für all das nur entschuldigen und habe das inzwischen auch schon bis hinauf ins Kulturministerium getan. Dort gibt man sich gewohnt wortkarg. Die Entwicklung der Realschule Geretsried werde von der Schulaufsicht begleitet, das Ministerium vom zuständigen Ministerialbeauftragten informiert.
An diesem Donnerstag gibt es an der Realschule von 16 Uhr an Führungen für Eltern und Schüler. Um 19.30 Uhr folgt eine Informationsveranstaltung in der Mensa für Eltern, die ihre Kinder an der Schule einschreiben wollen.