Jugendstil-Kirchen:Asymmetrie mit Blüten und Schnecken

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Klare Linien und ein bisschen Prunk: Der barockisierende Rahmen des Altarbildes vor den Jugendstil-Ornamenten in der Kochler Kirche. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Die Architektur im Jugendstil wendet sich vom Historismus ab. Die Kochler Kirche zitiert dennoch den Barock - womöglich als Zugeständnis an die Katholiken

Von Kaija Voss, Kochel am See

In Kochel, an der Mittenwalder Straße und vis-à-vis der Heimatbühne, zieht ein weißes Kirchlein mit auffällig geschwungenem Zwiebeltürmchen die Blicke auf sich. Barock? Man könnte ihn hier vermuten. Doch die an Blüten oder Schnecken erinnernde Ornamentik, Fensterläden, die wie Blätter aussehen und die ungewöhnliche Anordnung von Voluten und Stuckierungen lassen zwar den Begriff barockisierend zu, aber reiner Barock ist das nicht. Das Zwiebeltürmchen gehört zur Evangelisch-Lutherischen Pfarrkirche von 1913/14. Die Bauzeit weist klar in den Jugendstil, mit barocken und im Inneren auch antikisierenden Anklängen. Zu den gestalterischen Elementen des Jugendstils gehören dekorativ geschwungene Linien sowie eine Vielzahl flächenhafter Ornamente. Charakteristisch ist der Verzicht auf Symmetrien, wie es hier der asymmetrische Anbau, der sich nur an der Südseite der Kirche befindet, zeigt.

Der Jugendstil ist zwar eine internationale, aber keine stilistisch einheitliche Bewegung. Die Architekten sind sich vor allem in der Abkehr vom Historismus einig. Aber selbst darüber lässt sich streiten, denn Bezüge auf den Barock, wie hier in Kochel, sind durchaus historisierend. Formal steht Barock für Gegenreformation und Rekatholisierung, Jugendstil ist Ausdruck von Erneuerung und Aufbruch in Kunst, Architektur und Gesellschaft. Warum vereint die Kochler Kirche beides? Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte des Kirchenbaus in Bayern, denn eine evangelische Kirche war immer eine große Besonderheit.

Der erste evangelische Gottesdienst in München fand am 12. Mai 1799 in Schloss Nymphenburg statt, 115 Jahre bevor in Kochel die Evangelische Kirche geweiht werden konnte. Hintergrund für München war die Religionsausübung der protestantischen Ehefrau von Max I. Joseph, der badischen Prinzessin Karoline. Auch die Gemahlin von Ludwig I., Therese von Sachsen-Hildburghausen war Protestantin und blieb im katholischen Bayern zeitlebens ihrer Konfession treu. 1833 wurde die erste "Protestantische Kirche München" in der Nähe des Stachus, auf Höhe der Herzogspitalstraße, geweiht. Vierzig Jahre später, 1873 bis 1876, wurde mit St. Markus die zweite evangelische Kirche in München erbaut. Ihr Aufbau entsprach den Regeln des Eisenacher Regulativs von 1861, einer Bauvorschrift für protestantische Kirchen. Diese empfahl ein langes rechteckiges Hauptschiff und den neogotischen Stil. Die Münchner Lukaskirche wurde 1893 bis 1896 ebenfalls bewusst in vor-reformatorischen Formen, im Stil der Neoromanik und Neogotik errichtet, um nicht den Unwillen der Katholiken zu erregen.

Und wie sah es in Kochel aus? Bis Ende des 19. Jahrhunderts fanden evangelische Gottesdienste alle vier Wochen im Betsaal, dem heutigen Barocksaal, des Klosters Benediktbeuern mit einem Reiseprediger statt. Von 1902 an gab es über den Sommer im "Kurhotel Bad Kochel" evangelische Gottesdienste für Sommerfrischler und Reisende. Am 15. August 1903 wurde der "Kapellen-Bauverein" von 25 evangelischen Christen gegründet. Das Gründungsmitglied Karl Gustav La Roche stellte dem Verein das heutige Grundstück zur Verfügung. Zehn Jahre vergingen, bis genügend Geld vorhanden war, um 1913 einen Architektenwettbewerb ausschreiben zu können. Der Münchner Architekt Herrmann Selzer erhielt den Zuschlag für seinen Entwurf und wurde mit dem Bau beauftragt. Der Entwurf aus bayerischem Barock, Jugendstil und antikisierenden Elementen wird sicher nicht den Unwillen der katholischen Bevölkerung erregt haben.

Zu der Zeit leben bereits 100 Protestanten in Kochel. Im Juli 1914 wird die Einweihung der kleinen Saalkirche gefeiert, im September beginnt bereits der Erste Weltkrieg. Der Kirchenbau liegt genau in dem Zeitfenster, in dem der Jugendstil seine bunten Blüten als Reformbewegung treibt und doch keine umfassende gesellschaftliche Veränderung hervorbringen kann, wie sie sich der Münchner Simplicissimus 1897 wünscht: "Kann uns das Leben freuen? Es ist so alt und fad. Man muss die Zeit erneuern. Die Jugend ruft zur That. Doch nicht mit Brand und Messern wird diese Welt kuriert. Schmerzlos kann man sie bessern, wenn man sie stilisiert."

Die Mischung aus Historismus und Jugendstilformen, aus Bewährtem und Modernem, gibt es nicht nur in Kochel. Sie findet sich in ähnlicher Art auch in anderen Kirchen, so bei der Erlöserkirche München-Schwabing, erbaut von Theodor Fischer 1899 bis 1901. Hier wird die "vorreformatorische Romanik" mit Jugendstilelementen bereichert. Ebenso in der Evangelischen Kirche St. Michael in Wolfratshausen. Man findet neoromanische Rundbögen und Würfelkapitelle, am Hauptportal und im Innenraum. Das Portal ist mit weiß-mintgrünen Jugendstilranken, die Orgelempore mit geschnitzter Blattornamentik geschmückt. Der ursprüngliche Entwurf geht auf Theodor Fischer zurück, er wollte sich aber nach diversen Veränderungen nicht mehr dazu bekennen. Unter Leitung von Friedrich von Thiersch und den Herren Tuffentsamer und Neuhaus wurde die Kirche 1909 vollendet.

© SZ vom 31.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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