In Wolfratshausen-Waldram:Brillantes Wieder-Holen

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Einladung zum gemeinsamen Erinnern: Das Jewish Chamber Orchestra unter seinem Chefdirigenten Daniel Grossmann bringt dem Publikum in der Aula von Sankt Matthias zwei spannende Komponisten näher, die den Nazi-Terror nicht überlebten. (Foto: Manfred Neubauer)

Das Jewish Chamber Orchestra macht den Sound der Weimarer Republik hörbar und weckt die Erinnerung an Erwin Schulhoff und Viktor Ullmann

Von Paul Schäufele, Wolfratshausen

Die Erinnerungskultur tritt in eine neue Phase. Immer weniger Zeitzeugen der NS-Zeit und ihrer unmittelbaren Folgen können von ihren Erlebnissen berichten. In den vergangenen Monaten musste Abschied genommen werden etwa von Ruth Klüger, Irena Veisaitė und zuletzt von Esther Bejarano. Verloren geht dabei ein Teil des von Jan Assmann sogenannten "kommunikativen Gedächtnisses", das auf den Erfahrungen der Zeitzeuginnen beruht. Seine Stärke liegt in der unmittelbaren Ansprache, der emotionalen Nähe. Wie kann diese Affektlage, die unser Gedächtnis stützt, hergestellt werden, nun, da viele Zeitzeugen nicht mehr leben?

Vergessen ist der Normalfall, Erinnern bedarf bewusster Anstrengung, besonderer Techniken, Rituale, Gedenktage, Museen. Und ganz sicher können auch Konzerte einen Teil dazu beitragen, die Erinnerung lebendig zu halten und das Vergessen zu unterbinden. So brillant musizierte, wie das des Jewish Chamber Orchestras in Waldram jedenfalls, haben gute Chancen, dabei zu helfen. Auf seiner "Synagogentournee" hat das Münchner Ensemble auch in Waldram Station gemacht, auf Einladung des Erinnerungsortes Badehaus.

Mit Werken zweier jüdischer Komponisten haben die Musikerinnen und Musiker aus München zwei Namen präsent gemacht, die der Musikgeschichte fehlen, weil die Nationalsozialisten sie systematisch getilgt haben. Sie wurden als Verfasser "entarteter Musik" gebrandmarkt, an der weiteren Verbreitung ihrer Werke gehindert, schließlich im Konzentrationslager Auschwitz ermordet oder im Internierungslager Wülzburg dem Tuberkulose-Tod überlassen.

So unterschiedlich Erwin Schulhoff und Viktor Ullmann sind, repräsentieren sie doch auf je eigene Weise Züge der Epoche, für die sonst Namen wie Bartók oder Strawinski stehen. Schulhoffs "Suite für Kammerorchester" etwa, 1921 vollendet, besteht aus einer Folge von sechs Tanzsätzen, die nicht zum Tanzen gedacht sind - genauso wenig, wie Chopins Mazurken zum Tanzen gedacht sind. Der Prager Komponist ruft zwar in seiner Tonsprache Elemente des jungen Jazz auf, doch es sind nur Impressionen, die er erzeugen möchte. In ihrer schrägen Harmonik und den stachligen Rhythmen, die das Jewish Chamber Orchestra unter seinem Chefdirigenten Daniel Grossmann mit Ironie und grimmigem Witz aufgreift, erscheinen die Sätze als neusachliche Porträts eines Ragtimes, eines Tangos, eines Walzers.

In der Aula von Sankt Matthias macht das Münchner Ensemble den Sound der Weimarer Republik hörbar, wendig zwischen Kälte- und Hitze-Pol springend, grotesk und spannend. Mit diesen kühnen Experimenten, durch die sich Schulhoff früh an die Spitze seiner Komponistengeneration brachte, konnten die Nazis wenig anfangen. 1941 wurde der Jude und überzeugte Kommunist Schulhoff von Prag auf die Wülzburg bei Weißenburg abtransportiert, wo er im Jahr darauf starb.

Viktor Ullmann steht für eine andere Seite der Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von Arnold Schönberg hat der 1898 in Teschen geborene Komponist und Dirigent gelernt, dass das Wichtigste an der Musik ihre Ausdrucksdimension ist, doch mit der Zwölftonmusik seines Lehrers hat er gefremdelt. Vielmehr hat er nach einer Tonsprache gesucht, die das 19. Jahrhundert mit der Neuen Musik verband. Ein Stück wie "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" klingt da wie der Missing Link zwischen Spätromantik und Atonalität.

Ullmann gibt Rilkes Erzählung aus dem Türkenkrieg von 1663/1664 einen effektvollen musikalischen Kommentar. Zu Ausschnitten aus Rilkes Prosagedicht, die der Schauspieler Valentin Mirow nachdenklich und mit wohldosierter Kühle vorträgt, tritt die Musik illustrierend (um das Klappern von Hufen zu imitieren), mit Signalfunktion (wenn etwas betont Schreckliches gesagt wird), oder, um innere Prozesse zu zeigen. Denn Rilkes "Cornet" ist auch die Geschichte einer Liebesnacht. An diesen Stellen fallen Ullmann geradezu unheimlich schöne Melodien ein, die das Jewish Chamber Orchestra klangschön nachzeichnet. All das entstand während Ullmanns Zeit im Lager Theresienstadt, wo er ein wichtiger Part der sogenannten "Freizeitgestaltung" war.

Der "Cornet", seine letzte Komposition, hatte großen Erfolg beim Publikum, doch die Serie von Aufführungen musste abgebrochen werden, nachdem der Sprecher Fritz Lerner nach Auschwitz gebracht wurde. Wenig später, im Oktober 1944, sollten ihm Viktor Ullmann und seine Frau folgen. Die im Lager entstandenen Werke hatte er zuvor einem Bibliothekar übergeben, der sie verwahrte und nach dem Ende des Krieges ihren Weg ins Archiv bahnte.

Solche Konzerte sind auch Akte eines Wieder-Holens, denn Namen wie Schulhoff und Ullmann sind noch immer nicht im kollektiven Gedächtnis verankert. Das Jewish Chamber Orchestra Munich lässt den Wunsch laut werden, das nachhaltig zu ändern.

© SZ vom 27.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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