Ickinger Theatersommer:Flucht ohne Verzweiflung

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Naz (Arne Kübler) und Krysia (Jacky Avarneh) reisen ins Ungewisse. (Foto: Harry Wolfsbauer)

"Der Junge mit dem Koffer" begeistert das Publikum in Irschenhausen

Von Veronika Ellecosta, Icking

Die letzten Regenwolken haben den Himmel über Irschenhausen geräumt, das Abendlicht gibt nun den Blick in die Voralpen frei. Um den Überresten von Nässe zu entkommen, hat die Theatergesellschaft unterm Apfelbaum mit Gastgeberin Barbara Reimold die Aufführung von "Der Junge mit dem Koffer" in das weiße Zelt verlegt. Die Nächte nach dem großen Regen sind in Oberbayern schließlich kühl. Der Szenerie tut dies keinen Abbruch - handelt die Geschichte doch vom Jungen Naz und seiner Fluchtgeschichte.

Die Cargo-Kisten vor den weißen Zeltwänden verlegen die Bühne direkt in einen Schiffsbauch, in einen, in dem auch Sindbad, der Seefahrer gereist sein könnte. Das Sindbad-Narrativ ist für den jungen Mann immer wieder Anker und Ansporn, den Gefahren der Reise mit Mut zu begegnen. Es sind wie bei Sindbad sieben Etappen, die Naz zurücklegt, um sein kriegzerstörtes Land hinter sich zu lassen und nach England zu gelangen. Weggefährtin wird das Mädchen Krysia, wunderbar gespielt von Jacqueline Almaz Arvaneh, die zusammen mit Hauptdarsteller Arne Kübler als Naz eine Slapstick-Note schafft und die Schwere aus der Thematik nimmt.

Der britische Kindertheater-Dramatiker Mike Kenny hat "Der junge mit dem Koffer" mit ebenjenem bitteren Humor versehen, den Arvaneh und Kübler gekonnt in ihren Rollen austragen. In einem Balanceakt zwischen Leichtigkeit und Tiefsinn handelt Regisseurin Eileen Schäfer die Themen Flucht, Identität und Solidarität ab. So schafft es Naz mit teils grotesken, teils lustigen Erzählungen immer wieder, seine Reisebegleiterin zum Weitermachen zu animieren. Es gibt Szenen, in denen seine Geschichten von der Realität eingeholt werden. Missbrauch und Zurückweisung sind Aspekte, die selbst der tollkühne Geschichtenerzähler nicht zu bewältigen vermag.

So kommt das Jugendtheater gänzlich ohne übersteigertes Pathos und ohne euphemistisches Schweigen aus, nennt die Dinge beim Namen und trägt trotz alledem Zuversicht und Hoffnung mit. Das Ensemble "Kultion" des Theaters Münchner Freiheit besetzt die Rollen abwechselnd mit Profi-Schauspielern in Haupt- und Migranten in Nebenrollen, die in einigen Szenen der Fluchtbegegnungen auch authentisch in ihrer Muttersprache zu Wort kommen. Das verschafft der Inszenierung Identität und Lebendigkeit und lockt an diesem Abend nicht nur Jugendliche nach Irschenhausen.

Sie begleiten Naz durch Wüste und Gebirge und lauschen den Erzählungen des Reisenden. Denn das Stück selbst ist streckenweise als Erzähltheater angelegt; Naz wendet sich dann direkt an die Zuschauer und reflektiert über das Erlebte. Mit dieser Ebene schafft die Inszenierung mehrschichtige Dialoge: zwischen Publikum und Erzählerinstanz und zwischen Geflüchteten und jenen, die nie ihr Zuhause verlassen mussten.

Naz rettet sich nach England. Deswegen ist längst nicht alles gut, wie er in einer Postkarte an die Eltern schreibt. Kein überstürztes Happy End, aber ein Anfang. Unter tosendem Applaus geht das Licht aus.

© SZ vom 03.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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