Icking:Zwischen Traumwelt und Chaos

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Winfried Grabe und die Sinfonietta schufen zu den Stummfilmen passende Klangwelten. Doch auch das Publikum musste mithelfen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Die Sinfonietta Isartal spielt die Musik zum Stummfilm "Alice hat geträumt", das Publikum singt dazu schön schräg

Von Uta Schmidtsdorff, Icking

Ein Film ohne Text und auch noch ohne Musik? Eine Katastrophe! Schauspielerin Belle Schupp ist am Samstagabend im Rilke-Konzertsaal in Icking der Verzweiflung nah, als ihr bewusst wird, dass es sich bei der alten Walt-Disney-Verfilmung "Alice hat geträumt", die im Rahmen des Konzerts der Sinfonietta Isartal gezeigt werden soll, um einen Stummfilm handelt. Gemeinsam mit Kollegin Heila Steinman sucht sie einen Ausweg aus der misslichen Lage. Vom Weihnachtsglöckchen bis zum Waterphone werden die verschiedensten Geräusche ausprobiert, erweisen sich aber sämtlich als ungeeignet. Selbst die fabelhafte Aussicht, die dynamische Sinfonietta, das Jugendorchester der Musikwerkstatt Icking, einsetzen zu können, überzeugt Schupp nicht. Es werde im Film ja gesungen. Dann hat Heila Steinman den rettenden Gedanken: Das Publikum wird angewiesen zu singen: "Alle Vögel sind schon da", aber schön schräg, denn dieser Film braucht es so.

Natürlich reicht das nicht als Musik für den ganzen Film, und so wird bei Komponist Winfried Grabe, dem musikalischer Leiter der Sinfonietta, rasch noch das Fehlende in Auftrag gegeben: Etwas Gefährliches. Unvermittelt beginnen die Streicher das Sekundmotiv vom "Weißen Hai", doch stopp: es braucht eine ganz andere Sorte Grauen. Grabe zaubert mit seinen jungen Musikern die passende Klangwelt. Noch bevor der Film über die Bühne geht, tauchen die Hörer ein in die unterschiedlichsten Stimmungen von Traumwelt bis zum großen Chaos. Dabei wird offensichtlich, wie stark eine gute Filmmusik die Gefühle der Zuschauer beeinflussen kann.

Schließlich heißt es "Film ab!": Die nostalgisch anmutende schwarz-weiße Szenerie zeigt eine Musikstunde in der Schule und man erlebt, wie Kinder - dank vollem Einsatz des Publikums und eines wunderbar in Schieflage versetzten Orchesters - schauderhaft das zuvor einstudierte Volkslied singen. Das Chaos im Klassenzimmer steigert sich, als ein mit Tinte befüllter Luftballon platzt. Eine hilflose Strafmaßnahme der Lehrerin trifft Alice, die daraufhin, in der Ecke sitzend, zu träumen beginnt. Sensibel realisiert das Ickinger Jugendorchester die musikalischen Finessen zum filmischen Geschehen: Kleinste Motivsequenzen und einzelne Pizzicati kommen punktgenau auf die Szene. Plastisch gewinnt das szenische Chaos Raum in ihrer musikalischen Interpretation.

Nach der Pause steht mit Johannes Kiefers Filmproduktion "Gregors Größte Erfindung", die 2002 in den USA eine Oscarnominierung als Bester Kurzfilm erhielt, ein weiterer Film mit Musik von Winfried Grabe auf dem Programm: Eine ländliche Idylle, eine Oma, die nicht mehr laufen kann, drei Freundinnen, die sie ins Altersheim stecken wollen, und ein erfindungsreicher Enkel, der das verhindern möchte. Grabe nimmt sein Publikum mit auf eine musikalische Entdeckungsreise: Zunächst einmal A-Dur und ein Sechsachteltakt für eine fröhliche Farbe, schließlich genießen Gregor und seine Großmutter ja ihr Leben auf dem Land. Dann aber benötigt Grabe einen melancholischen Ausdruck, denn die Aussicht auf einen Umzug ins Altersheim weckt den Schmerz. Hier bringt der erfahrene Filmmusikkomponist die Klarinette ins Spiel, um die zarten Zwischentöne im Gefühlsleben der Hauptfiguren auszuloten. Schon nach den ersten Einblendungen wird deutlich, dass Kiefers Film ohne viele Worte auskommt, die Musik hier eine tragende Rolle spielt. Hingebungsvoll zeichnen die jungen Musiker die zärtliche Liebe zwischen Oma und Enkel. Dabei funktionieren sie als Team sehr gut zusammen: in Balance und Zusammenspiel erweisen sich die begabten Instrumentalisten als hervorragend eingespielte Mannschaft. Mit Grabe, der als professioneller Geiger und vielseitiger Orchesterleiter in allen Musikstilen bewandert ist, steht ihnen dabei ein Dirigent zur Verfügung, der sie sicher durch musikalisch heikles Gelände führen kann und dabei bestens zu motivieren versteht.

© SZ vom 26.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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