Icking:Himmel und Hölle

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Besuch einer Probe des Vokal-Ensembles Icking zu Bachs Matthäus-Passion

Von Sabine Näher, Icking

Draußen wirbeln die Flocken zur Erde, drinnen fliegen die Arme zum Himmel. Singen bedeutet Körperarbeit. Damit sich die Töne entfalten können, muss der vom Sitzen im Büro oder von der abenteuerlichen Fahrt durch das wüste Schneetreiben verspannte Körper erst einmal gelockert werden. Peter Francesco Marino steht in einem Raum der Grundschule Icking am Flügel, greift die Akkorde und befeuert das Einsingen und Einrenken mit vollem Körpereinsatz seinerseits. Seit Herbst 2010 leitet der Dirigent, der in Würzburg Klavier, Komposition und Orchesterleitung studiert hat, das Vokalensemble Icking. Erfahrungen mit dem sehr speziellen Kosmos eines Chors hat er zuvor in der Arbeit mit dem Hannoverschen Oratorienchor sammeln können.

Zu den Ickingern scheint Marino den rechten Draht gefunden zu haben: Es geht fast pünktlich los, und alle sind mit Konzentration und Freude bei der Sache. Die braucht es auch, denn Marino hat sich und dem Ensemble mit dem anstehenden Konzert eine Herausforderung gegönnt: Bachs Matthäus-Passion steht auf dem Programm, ein Meilenstein der Oratorienliteratur. Bach hat den Choristen hier vielfältige Aufgaben zugedacht: In den Chorälen ist ein Moment des Innehaltens, des Reflektierens zu gestalten; in den Chören werden die Sänger zum Teil der Handlung und müssen dramatisch agieren. Und dann gibt es noch die Begleitfunktion, wenn der Chor sich in einzelnen Arien zu den Solosängern gesellt. Marino beginnt mit einer solchen: "O Schmerz, hier zittert das gequälte Herz" hat der Tenor zu singen. Teilnahmsvoll schaltet sich der Chor ein: "Was ist die Ursach' aller solcher Plagen?" Der Charakter gefällt dem Chorleiter noch nicht: "Ihr singt zwar von der Plage, sollt aber bitte nicht selbst geplagt klingen."

Grundlage guten Singens: Verspannte Körper werden im Vokal-Ensemble erst einmal gelockert. (Foto: Hartmut Pöstges)

Marino spielt am Klavier, um die überreiche Partitur klanglich anzudeuten, dann springt er auf und dirigiert mit beiden Händen. Der Gesamtchorklang ist schön und rund, doch wenn die verschiedenen Stimmgruppen einzeln dran sind, offenbart sich weiterer Probenbedarf. Anweisung an den Alt: "Und das Ganze jetzt wie eine Melodie, bitte!" Es folgt die Arie zum vorangegangenen Rezitativ. Der Tenor singt: "Ich will bei meinem Jesu wachen", der Chor dazu "So schlafen unsre Sünden ein". Marino verlangt: "Bitte einmal alle die Augen zumachen - und zulassen! Ich sehe, wer sie offen hat." Der Trick funktioniert: Das Piano klingt jetzt viel weicher als zuvor.

Beim Duett Sopran und Alt "So ist mein Jesus nun gefangen" dagegen ist Beteiligung gefragt: "Lasst ihn! Haltet! Bindet nicht!", interveniert der Chor. "Ihr müsst in der Aufregung drin bleiben", motiviert Marino. "Weniger als die Lautstärke müsste man die Empörung hören." Der anschließende berüchtigte "Blitze-Donner-Chor" wird zunächst als Sprechgesang geübt, um den rhythmischen Feinschliff zu erzielen. Denn hier müssen es die Chorsänger tatsächlich blitzen und donnern lassen. "'Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle' - das müsst ihr richtig rausspucken. Und die 'Hölle' darf gerne hässlich klingen!"

Danach ist völliges Umschalten verlangt: Der Choral "Wenn ich einmal soll scheiden" braucht alle denkbare Innigkeit. Marino möchte ein sehr langsames Tempo. "So klingt es noch nicht. Stellt euch durcheinander auf und singt auf 'nu'!" Eine intensive Spannung entsteht. Dann muss der Chor die Volksmasse verkörpern, die den am Kreuz hängenden Jesus verhöhnt: "Der du den Tempel Gottes zerbrichst". Ein "gerüttelt Maß an Sarkasmus und Schadenfreude" verlangt der Dirigent. Er will es "so richtig böse". Und ist begeistert: "Ausgezeichnet! Ihr werdet noch bezahlt, wenn ihr so weitermacht . . ."

Zum Schluss der unglaublich groß besetzte Eingangschor. Marino hat alle Mühe, die Partitur am Klavier zum Klingen zu bringen. Zaghafte Frage aus dem Chor, ob's im Konzert wohl den Einsatz gebe? "Das hab' ich total vor. Aber im Moment fehlt mir die dritte Hand."

© SZ vom 10.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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