Icking:Avantgarde und Wohlklang

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Amaryllis-Quartett erweitert sich für zwei Werke zum Sextett

Von Reinhard Szyszka, Icking

Das Amaryllis-Quartett ist immer für eine Überraschung gut. Die vier Musiker, "Quartet in residence" der Ickinger Kammermusik-Reihe, waren in den vergangenen Jahren schon gemeinsam mit Bläsern und mit einer Sängerin zu erleben, haben Uraufführungen bestritten, an emigrierte Künstler erinnert sowie Rilke- und George-Rezitationen veranlasst. Diesmal standen im Rilke-Gymnasium Streichsextette auf dem Programm, und mit dem Bratschisten Volker Jacobsen und dem Cellisten Jens Peter Maintz waren zwei renommierte Musiker eingeladen, das Quartett zu ergänzen.

Dass die Überraschung allerdings in einer kurzfristigen Programmänderung bestand, hätte nicht unbedingt sein müssen. So etwas lieben die Konzertveranstalter gar nicht. Statt des ursprünglich avisierten ersten Streichquartetts des Ungarn György Ligeti gab es das einzige Quartett des Polen Witold Lutosławski zu hören. Die Programmhefte waren längst gedruckt, als die Änderung bekannt wurde, und so konnte nur noch ein Einlegezettel über die Änderung und das neue Werk informieren.

Immerhin schaffte es Maria Goeth, ihren Einführungsvortrag rechtzeitig umzustellen. Doch gab es hier eine weitere Schwierigkeit, die aus dem Werk selbst resultierte: Lutosławski verwendet in seiner Musik Zufallselemente, so dass jede Aufführung anders klingt. Tonbeispiele, die sonst einen wesentlichen Teil der Einführung darstellen, sind unter solchen Umständen nicht sinnvoll. Goeth machte das Beste aus der Situation. Lebhaft und locker berichtete sie nicht nur über Lutosławski, sondern auch über Schönberg und Brahms, und arbeitete bei allen dreien den Zusammenhang der Werke mit der Biografie heraus. Besonders gelungen: die kleine Bildergeschichte zur Entstehung der "Verklärten Nacht". So muss ein Vortrag sein: amüsant und zugleich lehrreich, ohne jemals ins Alberne oder Oberlehrerhafte zu verfallen. Bravo!

Das Konzert selbst begann mit dem zweifellos dicksten Brocken des Abends, dem Quartett von Lutosławski. Ein halbes Jahrhundert hat dieses Werk jetzt auf dem Buckel und klingt doch weitaus moderner, avantgardistischer als so manche heutige Uraufführung. Mit äußerster Konzentration und Sensibilität gingen die Musiker zu Werke. Gewaltige Klangballungen wechselten mit leisen, kaum hörbaren Passagen; rasend schnelle Abschnitte gab es ebenso wie nahezu völliges Erstarren. Das fast halbstündige Werk verlangte nicht nur den Musikern, sondern auch dem Publikum einiges ab, und dass im Saal mehr gehustet wurde als sonst in Icking üblich, lag nicht nur an der kühlen Witterung der vergangenen Wochen.

Schönbergs "Verklärte Nacht", ein tonales Frühwerk des späteren Zwölftöners, war nach diesem Auftakt geradezu eine Erholung. Die Musiker kosteten das spätromantische Werk mit seiner Klangfülle, seinen emotionsgeladenen Ausbrüchen geradezu schwelgerisch aus. Das Sextett enthält zahlreiche orchestral anmutende Stellen, bei denen die Stimmen im Oktavabstand geführt sind. Dies ist heikel für die Intonation, und die sechs Musiker entgingen nicht immer der Gefahr, im Überschwang der Gefühle die Oktaven unrein zu greifen. Doch tat dies der Wirkung keinen Abbruch. Die Gäste, Jacobsen und Maintz, hatten die Parts der zweiten Bratsche und des zweiten Cellos übernommen: harmonisch wichtige Füllstimmen. Bei den blühenden Melodien jedoch blieben die Amaryllis-Leute weitgehend unter sich.

Nach der Pause das erste Sextett von Brahms, und diesmal nahmen Jacobsen und Maintz am ersten Bratschen- und Cellopult Platz. Überraschenderweise führte diese Besetzung zu einer noch besseren Verschmelzung der Stimmen, zu einem noch homogeneren Klang, obwohl es jetzt die Gäste waren, die mit den Geigern des Amaryllis-Quartetts korrespondierten, während die Stammspieler die Füllstimmen bestritten. Die Künstler lieferten eine hinreißende Brahms-Interpretation voll Wohlklang und Harmonie, ohne ins allzu Glatte, Oberflächliche zu verfallen. Volker Jacobsen und Jens Peter Maintz konnten jetzt erst ihren hohen Rang zeigen. Wunderbar gelangen die Variationen des langsamen Satzes, und am mitreißenden Ende des Scherzos mussten sich die Zuhörer am Riemen reißen, um nicht spontan in Beifall auszubrechen: es stand ja noch ein Satz bevor! Auch das Finale gelang rundum überzeugend, und das Publikum applaudierte lebhaft und herzlich. Die Künstler bedankten sich mit einer Wiederholung des Scherzos aus dem soeben gehörten Sextett, und dieses Mal war der Applaus nach dem Scherzo erlaubt und erwünscht!

© SZ vom 17.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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