Glosse:Die Schrift an der Wand

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Lebensweisheiten findet man nicht nur auf Facebook oder Twitter

Von Klaus Schieder

Wer durch die Tölzer Fußgängerzone flaniert, kann was fürs Leben lernen. Als es noch lange kein Facebook, Twitter oder Instagram gab, um das Mitteilungsbedürfnis zu stillen, entschieden sich manche Hausbesitzer, ihre Lebensweisheiten mit einer Inschrift an der Wand einem vorbeischlendernden Publikum zuteil werden zu lassen. Eine tiefe Erkenntnis lautet zum Beispiel über einem Bademodenladen: "Am Abend wird man klug für den vergangenen Tag, doch niemals klug genug für den, der kommen mag." Ach ja, mag da Bauamtsleiter Christian Fürstberger seufzen, ging er doch unlängst mit dem Sondergebiet Hotel am Kurpark vor dem Verwaltungsgericht baden. Und muss nun beweisen, dass der zweite Teil des Spruchs auf seine Bebauungspläne fürs Bäderviertel nicht zutrifft.

Derlei Inschriften der Vorfahren haben einen Sinn, der nach Jahrhunderten nichts von seiner Gültigkeit verloren hat. Den Usern von Facebook, Twitter und Instagram muss man deshalb aber nicht gleich unterstellen, dass sie zuletzt aus dem vergangenen Tag klug wurden, als sie noch keinen Computer bedienen konnten. Auch im sozialen Netzwerk finden sich Weisheiten von zeitloser Schönheit, die jede Hauswand zieren würden. "Aufmerksamkeit und Absicht sind die Mechanik der Manifestation", wäre so ein vielfach geteilter Facebook-Eintrag, der zum langen, nur leider fruchtlosen Grübeln anregt. Etwas einfacher, aber nicht minder tiefgründig: "Das Leben ist eine Reise mit unbekanntem Ziel, du selbst kannst nur den Weg bestimmen und ankommen, wenn du da bist."

Wer einwendet, das sei doch alles Bullshit, dem sei vor Augen geführt, dass auch die Texte der Ahnen an den Hauswänden mitunter ein Rätsel aufgeben. Am Haus Marktstraße 21 ist in altertümlichen Lettern zu lesen: "Christof truge Christum, Christus truge die ganze Welt, sag, wo hat Christoforus damals kinden fues gestellt". Oder soll es kindenfues heißen, hindenfuel, kinden fuel . . . Die richtige Antwort lautet womöglich: Auf den Schultern. Aber das hat Tage, Abende und Morgen gedauert, bis dies einem aus der Facebook-Generation aufging. Schön jedenfalls, wenn auch Häuslebauer heute wieder sinnige Nachrichten an ihre Wände malen ließen, garniert mit zeitgemäßen Smileys und ASCII-Sonderzeichen. Dann hätten die Nachfahren in Jahrhunderten ebenfalls etwas zum Kopfzerbrechen, vulgo Kopfschütteln.

© SZ vom 03.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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