Gerichtsverhandlung:Reifenstecherei als "Hilferuf"

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Psychisch kranker Mann aus Lenggries bekommt Bewährungsstrafe. Er hat einen Schaden von mehr als 60 000 Euro an Autos verursacht

Von Andreas salch, Lenggries/München

Am Ende der Verhandlung huscht ein Lächeln über das Gesicht des Angeschuldigten. Gerade eben hat Richter Martin Hofmann, Vorsitzender der 3. Strafkammer am Landgericht München II, das Urteil verkündet. Der Angeschuldigte, ein 42-Jähriger aus Lenggries, ist wieder ein freier Mann. Für ihn bedeutet das, er muss nicht zurück in eine geschlossene Abteilung am Isar-Amper-Klinikum in München-Haar. Dort war er aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts München im Januar diesen Jahres einstweilig untergebracht worden. Denn er litt an einer paranoiden Schizophrenie. In diesem Zustand zerstach der 42-Jährige zwischen September 2016 und Dezember vergangenen Jahres die Reifen von nicht weniger als 129 Autos. Bisweilen riss er auch die Scheibenwischer an den Pkw ab oder zerkratzte den Lack. Es entstand ein Schaden von etwas mehr als 60 000 Euro. Der Verteidiger des Lenggriesers, Rechtsanwalt Stevan Krnjaic, sagte bei seinem Plädoyer, die Taten seines Mandanten seien "in gewisser Weise ein Hilferuf" gewesen.

Laut einer psychiatrischen Sachverständigen litt der 42-Jährige ab 2008 zunächst an Verfolgungsängsten. Er konnte nicht mehr zur Arbeit und ging in Rente.

Im Laufe der Zeit habe sich der Angeschuldigte immer mehr zurückgezogen, nichts habe ihm mehr Freude gemacht. Stattdessen sei er erfüllt gewesen vom Argwohn gegenüber seinen Mitmenschen.

Nachdem sich sein Zustand immer mehr verschlechterte, hatte sich der Lenggrieser sogar freiwillig stationär in einer psychiatrischen Klinik behandeln lassen. Im September 2016 geriet er jedoch wieder in eine Krise. In der Nacht auf den 20. September zerstach er mit einem Messer die Reifen von 19 Autos in Lenggries. Es entstand ein Sachschaden von knapp 9000 Euro. Wenige Wochen später waren es 22 Pkw, an denen der Angeschuldigte die Reifen aufschlitzte. Bis Anfang Dezember 2017 schlug er weitere acht Mal zu. Immer in Lenggries.

Der Verteidiger des 42-Jährigen erklärte, sein Mandant habe, bevor er die Taten beging, versucht, einen Platz in einer psychiatrischen Klinik zu bekommen. Doch es sei keiner frei gewesen. Einmal sei ihm ein Bett auf dem Flur angeboten worden. Doch das wollte der Lenggrieser nicht. Der Angeschuldigte sei darüber in "Rage" geraten, so sein Anwalt und habe sich daraufhin "das falsche Ventil gesucht", um seine Frustration abzubauen. Dem Gutachten einer psychiatrische Sachverständigen zufolge war der Angeschuldigte, als er die Reifen zerstach, in seiner Schuldfähigkeit erheblich vermindert.

Da der 42-Jährige ein Geständnis abgelegt hatte und zudem krankheitseinsichtig und therapiewillig sei, so die Staatsanwältin könne eine Bewährungsstrafe gegen ihn verhängt werden - ein Jahr und acht Monate wegen Sachbeschädigung. Ebenso beantragte die Staatsanwältin, die Maßregel der Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik unter einer Reihe von Auflagen zur Bewährungs auszusetzen. Dabei blieb es auch im Urteil des Gerichts. Den Unterbringungsbefehl hob die Kammer auf. Der Lenggrieser bleibt nun vorerst auf einer offenen Station des Isar-Amper-Klinikums und darf dann, sobald möglich, in eine therapeutisch betreute Wohngruppe. Das Urteil ist bereits rechtskräftig. ch

© SZ vom 21.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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