Geretsrieder Kulturpreis für Werner Sebb:Ein Leben in Es-Dur

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Der gelernte Tenor und Chemie-Ingenieur hat in der Stadt vielfältige kulturelle Initiativen angestoßen

Von Felicitas Amler, Geretsried

Der Schlüssel zu allem hängt an der Wand: Kunstvoll geklöppelt aus goldenem Faden auf rotem Untergrund und fein golden gerahmt ziert er das großzügige Wohn-Esszimmer am Steiner Ring 41 in Geretsried. Es ist ein Notenschlüssel. Kaum etwas hat das Leben von Werner Sebb so geprägt wie die Musik. "Ein leidenschaftliches Hobby", wie der 78-Jährige heute sagt. Vor nicht ganz fünf Jahrzehnten hätte er noch gesagt: Mein Beruf. Doch daraus wurde nichts. Von dem "Hungerlohn", den ein junger, frisch ausgebildeter Tenor an einer Bühne in Detmold oder Dortmund, Coburg oder Kaiserslautern seinerzeit verdiente, hätte Sebb seine Frau und die kleine Tochter nicht ernähren können. So entschied er sich mit 30 Jahren für den Brotberuf des Chemie-Ingenieurs, den er parallel zu seiner Gesangsausbildung bereits erlernt hatte. Und für die Musik als ständige Begleiterin seines rührigen Lebens.

Werner Sebb, der seit dem 7. April 1946 in Geretsried lebt, wird am kommenden Freitag mit dem Kulturpreis der Stadt ausgezeichnet. Gewürdigt wird sein vielfältiges kulturelles Engagement, von der Chorvereinigung über die Gründung einer Interessensgemeinschaft Kulturförderung und ungezählte Sängerauftritte als Solist bis zum Arbeitskreis Historisches Geretsried. Aber Sebb ist auch "ein Geretsrieder der ersten Stunde", wie es aus dem Rathaus anerkennend heißt. Er war zwar erst sechs Jahre alt, als er mit seiner Mutter und den Großeltern mit dem ersten Flüchtlingstransport aus Graslitz im Lager Buchberg ankam, und hat die Stadt daher nicht im Wortsinn mit aufgebaut. Doch zum Miteinander in Geretsried hat er viel beigetragen. Umgekehrt ist ihm die Stadt, wie er sagt, "sehr ans Herz gewachsen", er schätze die kulturelle Vielfalt: "So viele Landsmannschaften und Nationen, die hier in recht guter Harmonie zusammenleben." Und wenn einer das städtebaulich Zerfranste und architektonisch nicht gerade Preisverdächtige Geretsrieds anprangert, sagt Sebb nur: "Ich weiß, was hier vorher war - es hat sich immer nur zum Besseren entwickelt."

Geiger, Sänger, Chorleiter und Geschichtsforscher: Werner Sebb spielt im häuslichen Musikzimmer. (Foto: Hartmut Pöstges)

Das Lager Buchberg gehörte ursprünglich zu den Munitionsfabriken, welche die Nazis von 1938 an im Wolfratshauser Forst errichteten. Deportierte, vor allem Russen, die in der Rüstungsindustrie arbeiten mussten, waren dort - auf der heutigen Böhmwiese - untergebracht. Nach der Befreiung dienten die Baracken als Flüchtlingslager. Sebb erinnert sich gut an den ersten Tag: "Ein niederschmetternder Anblick" sei das Lager mit dem Stacheldrahtzaun und den Wachtürmen gewesen. In den Baracken: "Kein Strom, kein Wasser, keine Heizmöglichkeit. Nichts außer ein paar doppelstöckigen Bettgestellen ohne Matratzen." Brot und ein paar Grundnahrungsmittel habe seine Großmutter im streng auf 50 Kilogramm beschränkten Flüchtlingsgepäck gehabt. Die erste Mahlzeit aber sei von Gut Schwaigwall gekommen: "In Milchkannen angelieferter Karotteneintopf."

So elend das alles gewesen sei, sagt Sebb, für die Kinder, die sich schnell miteinander angefreundet hätten, sei es doch eine unbeschwerte Phase gewesen: Der Wald als Spielplatz, die schier grenzenlose Freiheit: Alle, die er aus seinem Jahrgang kenne, schwärmten noch heute von dieser Zeit. 57 Jahre nach seiner Ankunft in dieser mit Not wie mit Hoffnung verbundenen Bleibe hat Sebb zusammen mit einer Handvoll Gleichgesinnter den Arbeitskreis Historisches Geretsried (AHG) gegründet. Der arbeitet keineswegs nur persönliche Erinnerungen auf, sondern leistet grundlegende Lokalgeschichtsforschung, wie sie andernorts von städtischen Fachabteilungen erledigt wird. Sebb hat im Arbeitskreis, dessen stellvertretender Sprecher er ist, zum Beispiel die Ausstellung "Lagerbrand" initiiert und an den "Geretsrieder Heften" über Industriepioniere, "Kultur aus Ruinen" und "Zwei Munitionsfabriken" als Autor mitgewirkt.

Die Liste der Aktivitäten des 78-Jährigen ist so lang, dass sein Laudator Friedrich Schumacher sie für die Preisverleihung nur stichwortartig zusammengestellt hat - und selbst so haben drei DIN-A-5-Seiten nur gerade eben ausgereicht. Unter den Stichworten für seine Leidenschaft Musik finden sich der Musikverein Geretsried, das Heeresmusikcorps 4 in München, die musikalische Leitung der Chorvereinigung, das Gesangsstudium am Richard-Strauss-Konservatorium, Studiokonzerte, Vorsingen bei Opernhäusern und Agenturen, Soloauftritte, ein Liederabend, Schallplattenaufnahmen, Mitwirkung bei einer TV-Livesendung ...

Im schmucken Haus der Familie Sebb im Geretsrieder Stadtteil Stein gibt es ein eigenes Musikzimmer mit Plattenspieler, Kassettenrekorder und CD-Player, LPs, Büchern und einem Fundus an Instrumenten - Geigen, eine historische Harfzither, Gitarre und Tuba. In der holzgetäfelten Dachschräge hängt dekorativ ein Tenorhorn. Fürs Foto klemmt Sebb sich eine Geige unters Kinn, aber mehr als jedes Instrument liebt er den Gesang.

Erst mit 16 Jahren sei er durch seine Mitgliedschaft im Musikverein Geretsried zu Oper und Operette gekommen, erzählt er. Und durch einen Zufall wurde ein Gesangsprofessor auf ihn aufmerksam und riet ihm, sich ausbilden zu lassen. Sebb fuhr zweigleisig, machte seine Ausbildung bei Rudolf Chemie, später das Fernstudium zum Chemie-Ingenieur, und ging nachmittags und abends aufs Konservatorium, studierte Opern- und Liedgesang. Dann hieß es vorsingen bei Opernhäusern, "und ich musste mich durch die Agenturen beißen". Drei, vier Bühnen hätten ihn engagiert, sagt er. In Detmold etwa hätte er als Chorist und Solist anfangen können. Staatskapellmeister Heinrich Bender hätte ihn 1969 im Opernstudio der Staatsoper München angenommen. Das Manko: für 300 Mark ganztags. Sebb hätte nur ein Halbtagsengagement annehmen können, da er zum Geldverdienen weiter in dem Chemieunternehmen arbeiten musste. Er war 30 Jahre alt und fand, es sei an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. "Ich hatte lange daran zu beißen, dass es nichts geworden ist mit dem Singen. Aber ich bin ein Mensch, der Sicherheit braucht."

Werner Sebb steht an einem Bunker aus der Zeit der NS-Rüstungsbetriebe. (Foto: Manfred Neubauer)

Als Solist wie als Chorsänger ist Sebb dennoch oft aufgetreten, von Geretsried bis Salzburg, vom Münchner Motettenchor bis zum Bayerischen Rundfunk. Sein großes Vorbild war der lyrische Tenor Fritz Wunderlich. Sebb hatte die Tenorpartien aller gängigen Mozart-Opern im Repertoire, Tamino und Monostatos, Belmonte und Pedrillo, den Grafen in Rossinis "Barbier von Sevilla" und den Fenton in "Die lustigen Weiber von Windsor" von Otto Nicolai. Heute beschränken sich Sebb und seine Frau Ursula - die ebenfalls in einem Chor singt - auf den Besuch der Münchner Oper als Abonnenten. Und die Chorvereinigung lässt ihr Leiter Sebb nicht mehr öffentlich auftreten: "Wir nähern uns im Durchschnittsalter bald den Achtzig." Hoffnung auf Nachwuchs für diesen Chor macht er sich nicht. Die jungen Leute wollten doch keine Volkslieder und Madrigale mehr singen, sagt er, "die wollen Gospels und Musicals".

Sebb hat außer dem Chor noch eine andere regelmäßige Beschäftigung: Er ist "Schlaraffe", also Mitglied jener einst in Prag gegründeten Vereinigung von Männern, die in geselligen Runden "Freundschaft, Kunst und Humor" pflegen. Dass er Humor besitzt, zeigt nicht nur die Wahl seines Schlaraffen-Namens. In der Ritter-Runde heißt Sebb "Syngthetix", und das ist eine Zusammensetzung seiner beiden Lebensthemen, des Singens und der Chemie. Genauso augenzwinkernd darf man die kleine Applikation an der Hausfassade der Sebbs verstehen: Ein Violinschlüssel mit Notenzeilen, auf denen vier Noten tanzen: ein Es, ein E und zwei B: Sebb.

© SZ vom 27.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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