Geretsried:Tanzend wachsen

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In den Räumen eines Geretsrieder Maschinenbauers bringt Boris Spassov jungen Tänzerinnen Ballett bei. Er selbst wurde im Bolschoi-Theater gedrillt. (Foto: Hartmut Pöstges)

Boris Spassov ist mit dem Ballett großgeworden - und weit herumgekommen. Nach Stationen in Sofia, Moskau, Wien und München unterrichtet der Rumäne heute Kinder in Geretsried

Von Benjamin Engel, Geretsried

Dienstagnachmittag am Gelände des Geretsrieder Maschinenbauunternehmens Oli: Draußen fährt ein Laster vor. An der Rampe warten Arbeiter, um ihn zu entladen. Drinnen, im ersten Stock gleich daneben, umringen Boris Spassov zehn kleine Mädchen von vier Jahren bis zum Grundschulalter. Sie tragen türkisfarbene Trikots und schwarze Tutus zu weißen Strumpfhosen. Die Haare sind hochgesteckt oder zu Zöpfen geflochten. Zwischen ihnen erinnert der leicht füllige Ballettlehrer ein wenig an Balu, den Bären aus dem Dschungelbuch. Plötzlich läuft eines der Mädchen auf ihn zu: "Du hast ja gar kein Trikot und keinen Dutt", platzt es aus ihr heraus. Spassov entgegnet, dass er dafür einen Bauch habe. Er lächelt.

Die Szene mag banal erscheinen. Und doch zeigt sich an ihr Spassovs grundsätzliches Unterrichtsverständnis . Der 50-Jährige möchte den Kindern Spaß am klassischen Ballett vermitteln. Das sei das Wichtigste, sagt er. Die Kleinsten seien wesentlich sensibler als Erwachsene. Deswegen müssten die Ballettstunden für sie so spielerisch wie möglich sein. Alles beginne mit der Musik. Die Kleinen sollen sich vorstellen, eine Maus, ein Pferd oder ein Auto zu sein. Aus der Fantasie heraus entstehe Bewegung. Er erkenne Rhythmusgefühl oder die Freude am Tanzen an der Art, wie sich die Kinder bewegten.

Für Spassov ist diese spielerische Freiheit entscheidend. Sage er zu einem Kind einfach nur, dass es springen solle, könne es wenig damit anfangen. Erkläre er stattdessen, dass es sich vorstellen solle, Gummistiefel anzuziehen und damit zu springen, verstehe es besser, was gemeint sei. Ballett beginne also mit "Stiefeln" und endet beim "Füße strecken". Wer Ballett mache, müsse die Technik beherrschen, sagt der frühere Profi-Ballett-Tänzer. Genauso wichtig seien aber die Ausstrahlung, die Musik und das Gefühl. Erst dadurch entstehe Kunst. In erster Linie sollen seine Schülerinnen aber beim Ballett ihre alltäglichen Probleme vergessen. Jedes Kind profitiere und gewinne Selbstbewusstsein.

Ballett sei nur etwas für Mädchen oder Reiche; im Ballett seien alle Männer schwul: Das sind nur zwei der Klischees, mit denen diese Kunstform zu kämpfen hat. Spassov sagt, nichts davon stimme. Für ihn sei Ballett immer etwas ganz Selbstverständliches gewesen. Das liegt womöglich daran, dass der gebürtige Bulgare aus einer ballettaffinen Familie stammt. Seine Tante und Primaballerina Vera Kirova habe ihn in Sofia immer ins Theater mitgenommen. Dort habe er hinter den Kulissen gesessen. Die ganze Atmosphäre habe ihm von Anfang an gefallen - von der Ästhetik der Kostüme bis zu den Bewegungen der Tänzer und Tänzerinnen. Gereizt habe ihn auch der Kontakt mit der Welt. Denn Künstler seien im damaligen Ostblock privilegiert gewesen. Anders als andere Bulgaren hätten sie zu Aufführungen ins Ausland reisen können.

Nach zwei Jahren an der staatlichen Ballettschule in Sofia wechselte er im Alter von 13 Jahren an die Ballettschule des berühmten Bolschoi-Theaters in Moskau. Sechs Jahre lang blieb er in der russischen Hauptstadt, lebte meist im dazugehörigen Internat - eine schwierige Zeit. Nur in den Sommerferien besuchte er seine Familie in Bulgarien. Eine Pubertät habe er praktisch nicht gehabt, sagt Spassov. Er habe sogar jedes Mall um Erlaubnis fragen müssen, falls er das Areal der Ballettakademie in Moskau habe verlassen wollen. Im Unterricht sei er gedrillt worden. Das erklärt, warum er heute den Spaß und die Freude am Ballett so sehr vermitteln möchte.

Nach seinem Militärdienst schloss er 1988 einen Vertrag mit der Wiener Volksoper ab, wo er Solotänzer bei den Bregenzer Festspielen war. Später hatte er verschiedene Engagements in Deutschland. Mit 30 Jahren war Schluss mit der Profikarriere. Spassov wollte das so. Er sagt, er sei die ständigen Umzüge nach ein oder zwei Jahren einfach leid gewesen. Er habe eine Familie gründen und sich an einem Ort niederlassen wollen - seine Tochter ist heute 18 Jahre alt. Daher wechselte er als angestellter Lehrer an eine Ballettschule in Mannheim. 1996 machte er sich mit einer Schule in Göttingen selbständig. Seit 2001 ist er in München tätig. Zusätzlich unterrichtet er seit zwölf Jahren in Taufkirchen an der Vils und seit 2009 in Geretsried.

Mittlerweile lehrt Spassov seit rund zwei Jahrzehnten - ausschließlich klassisches Ballett für Kinder von vier Jahren bis zum Erwachsenenalter. Denn davon verstehe er etwas, sagt er. Und daran mag auch keiner zweifeln, der ihn von der Entwicklung des Balletts erzählen hört. Von den vier Ballettschulen - die russische, italienische, dänische und französische - mit einer mehr als 200 Jahre alten Tradition und ihren Eigenheiten. So habe August Bournonville die dänische Schule begründet. Deren Charakteristikum sei es, alle Bewegungen nur frontal, nie seitlich zum Publikum auszuführen.

Schließlich beginnt in Geretsried die Ballettstunde. Die kleinen Schülerinnen machen Wechselschritte oder Demi-pliés. Das heißt, sie beugen ihre Knie und bleiben mit den Füßen so stehen, dass ihre Fersen einander berühren. Sie drücken die Hände in die Hüfte, fassen sich pärchenweise an die Händen, laufen in Trippelschritten rückwärts. Die Bewegungen erfordern Konzentration und Genauigkeit. Da passiert es schnell einmal, dass manches nicht sofort klappt. Dann greift Spassov ein und tanzt ihnen sogar vor. Die Freude am Ballett ist in allen Gesichtern zu sehen.

© SZ vom 14.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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