Theater:"Eine echt Geretsriederische Geschichte"

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Günter Wagners Stück "Flucht" wird auf dem Kulturherbst-Festival erstmals aufgeführt. Bürgermeister Michael Müller ermuntert das Publikum, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen

Von Felicitas Amler, Geretsried

Starke Worte, die der Geretsrieder Autor Günter Wagner auf der Bühne im Kulturherbst-Zelt erklingen lässt: "Ich möchte wissen, wo mehr Menschen sterben - durch islamistischen Terror oder an den Außengrenzen der christlichen Nächstenliebe." Bei der Premiere seines Stücks "Flucht" am Samstagabend gab es viel Applaus für solche Sätze, mit denen die Einengung des deutschen Asylrechts angeprangert wird.

Wagner skizziert in dem von Konstantin Wecker eingängig musikalisch gestalteten zweistündigen Theaterstück politische, gesellschaftliche und persönliche Reaktionen auf das weltweite Phänomen Flucht. Er tut dies bewusst vor dem Hintergrund der Geretsrieder Stadtgeschichte, dem Aufbau durch Heimatvertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf der Bühne zeigt sich dies, wenn die Mutter der Familie, in der sich alles abspielt, einen Vergleich ihrer nach der Vertreibung in Geretsried gelandeten Eltern mit heutigen Flüchtlingen empört zurückweist: "Oma und Opa waren deutschstämmig und fleißig."

Die Uraufführung war nicht ganz ausverkauft und von auffallend vielen Lokalpolitikern besucht: von ehemaligen und amtierenden Bürgermeistern, Kreisräten, Wolfratshauser und Geretsrieder Stadträten. Auch Landrat Josef Niedermaier (FW) und der FW-Landtagsabgeordnete Florian Streibl waren zugegen. Der Geretsrieder Bürgermeister Michael Müller (CSU) eröffnete den Abend gemeinsam mit dem Autor und freute sich auf "eine echt Geretsriederische Geschichte", die "von beklemmender Aktualität" sei und zu Diskussionen anregen solle.

Das Stück beginnt und endet mit Tanz und Musik: In der Rolle eines Disco-Stars auf silberglänzenden Plateau-Sohlen besingt Regisseur Harald Helfrich das Paradies. Der einzige Unterschied: Zu Beginn ist es ein Kommerz-Paradies ("Die Schaufenster voll, die Lager zum Bersten"), am Ende eines der Solidarität und Toleranz ("Dein Leben wird endlich frei, wennst das Glück mit anderen teilst"). Dazwischen liegt das Schicksal des gebildeten afghanischen Flüchtlings Mohammed (Hussam Nimr), der nach politischer Verfolgung, Folter und Auslöschung seiner Familie durch Taliban nach Deutschland geflohen ist. In der Geretsrieder Familie, in der er Zuflucht sucht, brechen Konflikte auf. Die esoterisch absorbierte Mutter Sieglinde (Corinna Binzer) reagiert mit totaler Abwehr: "Was is, wenn des so a Taliban is?" Vater Erwin (Tom Kreß), der sich bis dahin gerühmt hat, früher - anders als seine Tochter jetzt - für das Gute auf die Straße gegangen zu ein, will keine Verantwortung übernehmen: Er könne ja auch nichts dafür, wenn anderswo gefoltert wird. Schwiegersohn Erwin (Armin Schlagwein), ein aalglatter neoliberaler Unternehmensberater, ist zynisch bereit, den Afghanen in den heimatlichen Tod zurückschicken zu lassen. Und als er sieht, dass seine Braut sich von einer nur am Internet interessierten Tussi in ein menschlich fühlendes Wesen verwandelt, das Humanität einfordert, dreht er sich noch weiter nach rechts, in den Faschismus.

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(Foto: Hartmut Pöstges)

Man sieht: Der afghanische Flüchtling Mohammed (Hussam Nimr) ist gefoltert worden. Doch Vater Erwin (Tom Kreß) will keine Verantwortung übernehmen.

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(Foto: Hartmut Pöstges)

Erwins Schwiegersohn Heinz (Armin Schlagwein),ein aalglatter Unternehmensbetrater, wendet sich dem Faschismus zu.

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(Foto: Hartmut Pöstges)

Einzig die Tochter der Geretsrieder Familie, Claudia (Claudia Hinterecker), öffnet in Günter Wagners Stück "Flucht" ihr Herz für die Flüchtlinge.

Tochter Claudia (Claudia Hinterecker) ist die Identifikation stiftende Figur des Stücks. Sie nimmt sich als einzige das Schicksal des gefolterten Flüchtlings zu Herzen - und informiert sich gründlich. Das führt dann zu Einsprengseln aus Wagners Feder, wie dem, dass in Bayern fast jede Familie einen Flüchtlingshintergrund hat: "Sonst tät's solche Städte wie Waldkraiburg und Geretsried überhaupts net gebn." Und zu Liedern darüber, dass weltweit gefoltert werde, "jeden Tag, in China, in Asien, in USA". Derweil warnt die Mutter ihre Tochter davor, sich dem afghanischen Mann zu nähern: "Was moanst, was du als Frau im Islam wert bist!" Claudia kontert: "A net vui weniger wia in da katholischen Kirch."

Unterschiedliche Räume werden in der Inszenierung (Bühne: Thomas Bruner, Choreografie: Janina Möller) geschickt mit verschiedenen Ebenen und Einsatz von Licht suggeriert. Ganz unten, fast ohne Beleuchtung, lagern permanent, kaum wahrgenommen, Flüchtlinge auf Fetzen. Die im Dunkeln sieht man nicht.

Das Stück endet wie das richtige Leben für so viele Flüchtlinge auch: mit der Abschiebung. Denn Mohammed hat, wie es die Männer von der Ausländerbehörde (Hermann Paetzmann und Franz Foitzik) ungerührt konstatieren, sein grausames Schicksal "nicht schlüssig nachgewiesen". Viel Applaus und mehrere "Vorhänge".

"Flucht", Kulturzelt an der Jahnstraße, Geretsried, Donnerstag, 9. Oktober, Samstag, 11. Oktober, jeweils 20 Uhr. www.kulturherbst-geretsried.de

© SZ vom 06.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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