Gaißach:Raum für Neues

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Der Künstler Erwin Wiegerling öffnet sein Atelier für Lesungen. In der ehemaligen Fabrikhalle erwartet sie eine Entdeckungsreise.

Petra Schneider

Erwin Wiegerling will zum Innehalten anregen - etwa mit der Arbeit "Der geborgene Christus", die er für das Diözesanmuseum in Augsburg geschaffen hat. (Foto: Manfred Neubauer)

Wie eine Oase liegt das Atelier des Künstlers Erwin Wiegerling im Gewerbegebiet in Gaißach. Ruhe herrscht in der ehemaligen Fabrikhalle, eine kontemplative Atmosphäre, in der sich die Gedanken befreien können vom Alltäglichen. Die Aufmerksamkeit wird gebündelt und kann sich auf ein kreatives Universum richten, in dem Vertrautes in ungewohnte Zusammenhänge gestellt wird und Natürliches in einen künstlichen Rahmen.

An den Wänden hängen dreidimensionale Arbeiten, sogenannte Eingerichte mit Ästen, Blättern, Asche - natürliche Materialien, die den Objekten und Installationen ihre Eigenart geben. Im Arbeitsbereich herrscht ein anregendes Durcheinander: Fundstücke, weiß eingefärbte Palmblätter, Vogelnester, lebensgroße dreibeinige Pferde aus Streubüscheln, Fahnen, bemalt mit japanischen Schriftzeichen und Haikus, die bis zum Boden hängen und den großen, hohen Raum strukturieren. Entdeckerfreude wird wach und der Blick geschärft für die Schönheit natürlicher Formen und Gegenstände.

Auf der Empore steht eine Orgel aus den 50er Jahren, die Wiegerling in einer Kirche in Laim entdeckte und die dort ausrangiert werden sollte. Manchmal gibt es seitdem im "Forum Lin" Konzerte. "Aber immer nur in einem kleinen, privaten Kreis", sagt der Hausherr. Seit über 30 Jahren arbeitet der gelernte Restaurator als freischaffender Künstler. Den Künstlernamen E.LIN hat er sich in den 70er Jahren zugelegt, als er ein verrostetes Schild in der Isar fand, auf dem eben nur diese Buchstaben zu erkennen waren. Dass er vor 15 Jahren die Fabrikhalle in Gaißach entdeckt und dort ein Atelier eingerichtet hat, sei ein Glücksfall gewesen. Ein Raum, in dem nicht Altes rekonstruiert, sondern Neues geschaffen wird. Seine Firma für Restaurierungen, in der Wiegerling 50 Mitarbeiter beschäftigt, ist in einem Nebengebäude untergebracht.

Materialien und Strukturen aus der Natur, Großobjekte für den öffentlichen Raum wie die Arche Noah, die ein Jahr lang im Seeoner See trieb, oder die Gestaltung sakraler Räume wie der interreligiöse "Raum für Gebet und Stille" im Flughafen München II bestimmen die Arbeiten des 69-Jährigen. Sie sollen zum Nachdenken und Innehalten anregen, wie "Der geborgene Christus", den Wiegerling für das Diözesanmuseum in Augsburg geschaffen hat: Eine verletzliche Christusfigur liegt mit weißen Palmzweigen eingewickelt in einer Daunendecke, darüber schweben drohend zwei mächtige Holzstämme. Ein "Denkhaus" bildet das Zentrum des Werkraums, erreichbar über eine Treppe und spartanisch eingerichtet mit Stuhl und Tisch. Besucher können dort ihre Gedanken aufschreiben und sie in eine Stele einwerfen, die nicht geöffnet werden kann.

Daneben auch Augenzwinkerndes, wie das raumfüllende Objekt anlässlich des 200. Geburtstags des "Kasperlgrafen" Franz von Pocci: Ein Boot, innen rot lackiert, außen mit Streubüscheln verkleidet und mit einer Angel versehen, an der eine gelbe Gummiente wippt.

Streubüschel finden sich fast bei allen Arbeiten de Künstlers. Sie stammen aus dem Moor seiner Heimat Benediktbeuern und sind sein bevorzugtes Material, weil die hohlen Halme zugleich filigran und widerstandsfähig seien. Gepresst und geschnitten zeigen sich in den aus den Ballen geschnittenen Scheiben Wellen, Brüche, Strukturen - Verborgenes, das so erst sichtbar werde. Das Geheimnisvolle und Vergängliche fasziniert den Künstler. Dazu gehören auch Handschriften, die spiegelverkehrt und ornamental zu Chiffren für die Individualität werden, die im Zeitalter der Digitalisierung immer mehr verloren gehe. "Mir widerstrebt, dass alles so öffentlich wird", sagt Wiegerling.

Lange hat er deshalb auch sein Atelier nicht geöffnet, nur einmal im Jahr Kinder des Lebenshilfe-Kindergartens zum gemeinsamen Malen eingeladen. Wenn sich die Kinder dann seine Objekte aneignen, die Quietschente wippen lassen oder sich in das Bett aus Blättern legen, das zu einer Rauminstallation gehört, freut ihn das. "Ich möchte Menschen mit meiner Kunst erreichen", sagt Wiegerling.

Seit Kurzem stellt er sein Atelier für Lesungen und Veranstaltungen zur Verfügung, auch, weil immer wieder Leute gefragt hätten, ob sie sein Atelier einmal sehen könnten. Marianne Sägebrecht und Amelie Fried haben dort auf Einladung der Lenggrieser Veranstalterin Sabine Pfister gelesen, kommenden Montag wird die diesjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova zu Gast sein. Bewahren und Erhalten, das sei für ihn ebenso wichtig, wie Neues schaffen, sagt der Künstler.

© SZ vom 10.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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