Ottilie steht fest auf dem Kunststoffboden, locker in den Knien, die Hände in Abwehrposition vor dem Körper zu Fäusten geballt. Aus einem CD-Player tönen Lady-Gaga-Beats. Trainerin Gabriele Klepp streckt ihr das Polster entgegen: "Hau rein, Lili!" Ottilie nickt kurz und kickt dann energisch ins Polster. Und noch ein Kick. Und noch einer. Viermal. Die Trainerin ist zufrieden. Ottilie winkt ab und nestelt verlegen am Knoten ihres gelben Gurtes. Seit einem halben Jahr kommt Ottilie Kopetz zweimal in der Woche aus Eurasburg in die Taekwondo-Schule Miethig in Geretsried, zusammen mit ihren Enkelkindern Ella, Helena und Cosima. Es ist der erste Sport, den die 86-Jährige in ihrem Leben betreibt: "Mit neuer Hüfte und neuem Knie", sagt sie und lacht.
Sie habe ihr Leben lang immer viel arbeiten müssen, sagt sie, auf dem Bauernhof der Eltern, als die Familie 1946 aus dem Ostsudetenland nach Oberbayern kam, dann als Haushaltshilfe und später bei der Süddeutschen Klassenlotterie als Bürokraft. Jetzt sei der Sport neben der Arbeit im Garten und dem Haushalt eine gute Möglichkeit, um fit zu bleiben.
Aktuell bereitet sich die 86-Jährige auf ihre zweite Gelbgurtprüfung vor. Deshalb möchte sie mit Trainerin Gabriele unbedingt noch einmal die zweite Poomse durchgehen. Poomsen sind spezielle Bewegungsabläufe, die Schüler bei den Gürtelprüfungen fehlerfrei ausführen müssen.
Helena, 17, und Cosima, 15, tragen bereits den zweiten Schwarzgurt, die neunjährige Ella den roten. Die drei sind stolz auf ihre Oma - und nicht ganz unschuldig am neuen Hobby der 86-Jährigen. Einmal habe sie beim Training der drei zugeschaut, erzählt die Großmutter. Dann habe Klaus Miethig, Trainer und Inhaber der Taekwondoschule, gesagt: "Probier's doch mal!" Der verteidigt sich: "Aber nur weil du gesagt hast, dass du es gerne mal ausprobieren würdest." Stimmt. Sie habe dann zunächst einer Art Probezeit gehabt und sei dabei geblieben. Auch dank Inge und Ilse, zwei Taekwondo-Schülerinnen aus der selben Trainingsgruppe, 80 und 70 Jahre alt. "Die haben mir Mut gemacht."
"Das muss man sich erst mal trauen, in dem Alter", sagt Miethig und klopft seiner ältesten Schülerin auf die Schulter. "Und, Lili, bist du nervös wegen deiner Prüfung am Sonntag?" Ein Lachen aus der Runde der Enkelinnen nimmt die Antwort vorweg. "Oma ist voll nervös", sagt Helena. Und Ottilie Kopetz gibt zu: "Schon ein bisschen."
Trainerin Gabriele Klepp, die donnerstags die Schrittfolgen, Kicks und Abwehrtechniken mit der Gruppe übt, achtet darauf, dass sich ihre Schülerin nicht übernimmt. "Sie ist sehr ehrgeizig. Da muss man ihr schon manchmal sagen, dass sie langsam machen soll." Egal, bei welcher Trainingseinheit, Ottilie Kopetz ist immer in Bewegung, auch wenn sie steht. Sie ärgert sich sichtlich, wenn sie einen falschen Schritt gemacht hat und verbessert sich sofort.
Besonders die Übungen für die Gelenke täten ihr gut, sagt sie. "Plötzlich kann ich mir die Socken wieder besser anziehen." Deshalb habe es auch noch keinen Tag gegeben, an dem sie nicht gerne ins Training gekommen sei. Fällt ein Feiertag auf Dienstag oder Donnerstag, findet sie das lästig. "Andere bekommen schon mal böse SMS von mir, weil sie das Training schleifen lassen", sagt Miethig mit gespielt strengem Blick Richtung Helena und Cosima. Ottilie Kopetz muss niemand ermahnen.
Trotz vieler Kicks, Fauststöße und Blocktechniken trainieren die Sportler im Taekwondo mehr als Kraft und Ausdauer. Bewegungsabläufe mit vielen verschiedenen Schrittfolgen müssen präzise sitzen, und die Schüler arbeiten stark an ihrer Koordinationsfähigkeit. Ottilie Kopetz hat die Abläufe für Sonntag im Kopf. "Achte aber darauf, dass du nicht zu schnell wirst", ermahnt die Trainerin sie. Auch Selbstverteidigung gehört zur Gürtelprüfung. Trainerin und Schülerin stehen sich gegenüber. Nach der respektvollen Verbeugung macht Klepp einen schnellen Schritt auf die 86-Jährige zu und täuscht einen Faustschlag in die Bauchgegend an. Ottilie Kopetz pariert. "Das klappt am Sonntag", sagt Klepp anerkennend.
Parallel zur Trainingsgruppe der Anfänger trainieren im Raum gegenüber die Fortgeschrittenen. Immer wieder dringt ein energisches "Kiap" herüber - der Schrei der Taekwondo-Kämpfer. "Da drüben fliegen die Fetzen", stellt Ottilie Kopetz fest und ihre Augen blitzen. Irgendwann will auch sie einen Bruchtest machen - also mit eigener Kraft ein Brett zerschlagen, wie ihre Enkelinnen. "Davor hab ich keine Angst", sagt sie und macht einen Handkantenschlag in die Luft.