Eurasburg:Rock my Soul

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Wenn Claudia Sommer zum Musizieren ins Kinderheim Inselhaus kommt, liegen Angst und Verweigerung, Mut und magische Momente dicht beieinander

Von Stephanie Schwaderer, Eurasburg

60 Minuten mit zehn Pubertierenden in einem kleinen Dachzimmer, das könnte anstrengend werden. Ein quirliges Mädchen mit rot gefärbtem Haar lässt sich kreischend nach hinten über einen Knautschhocker fallen, während ein kräftiger Junge in eine Flöte bläst und ein großes, schweres Mädchen zögernd nach einem Stuhl sucht. Auch zwei Flüchtlingskinder haben sich eingefunden. Ein Bub aus Afghanistan und ein junger Schwarzer, von dem bislang keiner Genaueres weiß - und in dieser Runde wird man auch nichts erfahren. Das Woher und Warum bleibt draußen, wenn Claudia Sommer im Inselhaus mit Kindern Musik macht.

Einmal in der Woche kommt die Sängerin mit den dichten, goldenen Locken und den Lachfältchen um die Augen in das versteckt im Grünen gelegene Kinderheim bei Beuerberg. "Jetzt setzt euch doch mal", sagt sie freundlich, aber bestimmt, während sie dem großen Mädchen einen stabilen Stuhl hinschiebt und die Gitarre griffbereit stellt. "Du auch. Und du auch." Sommer hat etwas Leuchtendes. Und Nerven wie Stahlsaiten. "Ich singe nicht mit", proklamiert eine Jugendliche mit Brille mehrmals. "Ihr müsst nicht mitsingen", sagt Sommer. "Aber probieren wir doch noch mal das Stück, das wir beim Konzert singen wollen."

Mit ihrer warmen, wohltuenden Stimme macht sie den Anfang und bringt Takt für Takt Ruhe in die Runde. Das Durcheinander weicht Konzentration. Ein aufmunterndes Nicken, und das große Mädchen, das bislang stumm auf seinem Stuhl gesessen hat, hebt hell und klar an: "Rock my soul in the bosom of Abraham." Dann setzen die nächsten zaghaft ein: "So high, I can't get over it, so low, I can't get under it. So wide, I can't get 'round it. Oh rock my soul." Manche Köpfe wippen leicht im Takt. Der dritte Teil, "Rock my soul, rock my sou-ou-oul!", gehört den Jungs. Es groovt, es macht Spaß, auch wenn längst nicht jeder Ton sitzt. Da ist plötzlich etwas Großes, Gemeinsames, etwas ziemlich Starkes.

Eine Gitarre und Nerven wie Stahlsaiten, mehr braucht Claudia Sommer nicht, wenn sie im Inselhaus Kinder und Jugendliche zum Singen ermutigt. (Foto: Hartmut Pöstges)

Der Neue singt nicht. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und weiß nicht, wohin er schauen soll. Der junge Afghane hat ihn anfangs vorgestellt: "Er ist ganz neu, spricht sehr gut Englisch, aber kein Deutsch." Er selbst lebt seit zwei, drei Wochen im Inselhaus und ist ein flammender Fan der Sommer-Stunden, ein eifriger Sänger. Heute hat er eine Gitarre mitgebracht. Die würde er gerne spielen lernen. Aber dafür ist leider keine Zeit.

Stattdessen versucht die Musikerin immer wieder Kontakt zu dem jungen Schwarzen aufzunehmen. Irgendwann gibt dieser zu verstehen, dass er vielleicht eine Trommel ausprobieren würde. Gekonnt klemmt er sich das Instrument zwischen die Beine. Aber einen Rhythmus findet er nicht. Nicht einmal einen ganz einfachen. Zwischen Herz und Händen liegt offenbar ein weiter Weg. Um zu trommeln, sagt Sommer später, müsse man in sich sein. Der Junge ist nicht in sich. "Wie sollte er auch?"

Zwei Mädchen hadern lautstark mit sich und der Frage, ob sie jetzt den Song vortragen sollen, den sie in der Loisachhalle singen wollen. Gegiggel, Gezicke. Sommer bleibt ruhig. "Ich möchte, dass ihr euch nicht anschaut", sagt sie nach dem dritten Versuch, der in Gekicher erstickt ist. "Schaut ins Publikum. Es ist schwer, aber ich glaube, ihr schafft das." Im vierten Anlauf gelingt es: "El Shaddai" singen die beiden, ein Lied auf Hebräisch und Englisch, das für ein paar Minuten alle anderen Geschichten aus dem Dachzimmer vertreibt. Da sind nur noch diese beiden Mädchen mit ihren brüchigen, dann wieder souligen Stimmen und diese traurig-schöne Melodie. Ganz still ist es. Nach dem letzten Akkord sind alle für einen Moment perplex - auch die beiden Sängerinnen. Dann bricht Jubel los.

Ein neues Lied steht heute auch noch auf dem Programm, der WM-Hit "Auf uns" von Andreas Bourani. Ein Maulen macht die Runde: "Oh nein!" "Bloß das nicht!" "Ich singe nicht mit." Dabei bekommt der Refrain - "Ein Hoch auf das, was vor uns liegt, dass es das Beste für uns gibt" - in dieser Runde eine ganz andere Dimension. Und die Textblätter, das stellt sich schnell heraus, sind überflüssig: Fast alle kennen den Song auswendig. Sie singen ihn mit zarter Inbrunst. Und wollen ihn gleich noch einmal singen: "Ein Hoch auf uns! Auf dieses Leee-ben! Auf den Moment, der immer bleibt."

Es ist das letzte Lied an diesem Abend. Die Stunde ist vorbei. 60 Minuten, die es in sich hatten. Rock my soul.

© SZ vom 13.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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