Eine Schau des Bezirks:Hüter der Augenblicke

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Der Lenggrieser Fotograf Claus Eder hat in seinem Archiv 500 000 Bilder gesammelt, geordnet und gerettet - ein Fundus, der ihn zu immer neuen Ausstellungen inspiriert

Von Stephanie Schwaderer, Lenggries

Was für ein Typ: Betont lässig sitzt Conrad Weiss auf seinem Motorrad und zeigt Profil - vom Trachtenhut bis zu den polierten Lederschuhen. Sein Blick schweift ins Ungewisse. Das Gefährt mit den dünnen Reifen, auf dem er - dank Gartenzaun - die Balance hält, erinnert noch sehr an ein Fahrrad. Aber es muss die Schau im Dorf gewesen sein. "Mein Urgroßvater war ein Pionier", sagt Claus Eder und dreht die kleine Fotografie in den Händen. "Er war immer der Erste in Lenggries, der etwas hat ausprobieren müssen: das erste Motorrad, das erste Telefon, die erste Plattenkamera." Conrad Weiss ist seit mehr als hundert Jahren tot. Zwischen ihm und seinem Urenkel liegen Welten. Und dennoch ist ihr Leben auf faszinierende Weise verknüpft.

So begierig der eine in die Zukunft geblickt hat, so leidenschaftlich schaut der andere zurück. War der Urgroßvater ein Katalysator des Zeitgeistes, ist sein Nachfahre ein Hüter der Vergangenheit. Genauer: der Hüter der Vergangenheit in Lenggries und Umgebung. Wer in der Gemeinde etwas über die Geschichte seines Hauses oder Straßenzugs in Erfahrung bringen will, wem alte Fotoalben in der Hand zerfallen, der geht zum "Buidleck" in der Lenggrieser Marktstraße. Das Häuschen neben dem wuchtigen alten Gasthof Zur Post wirkt auf den ersten Blick bescheiden. Tatsächlich verbirgt sich hinter den weißverputzten Wänden und den grünen Fensterläden ein einzigartiger Schatz: 500 000 Fotografien hat Eder in den vergangenen Jahrzehnten gesammelt, akribisch geordnet, digitalisiert und vielfach auch gerettet. Eine halbe Million Augenblicke - unwiederbringlich verloren einerseits, dank Eder jedoch fachmännisch konserviert.

Den Grundstock dafür hat sein Urgroßvater mit der Plattenkamera gelegt. Die älteste seiner datierten Aufnahmen, eine Auftragsarbeit der Kirche, stammt aus dem Jahr 1873 und zeigt einen Hochaltar. Im Hauptberuf sei Conrad Weiss Kaufmann gewesen, erzählt Eder. Als gebürtiger Münchner habe er in die Lenggrieser Kolonialwarenhandlung Schneeberger eingeheiratet und mit allem gehandelt, was damals im Dorf Gefallen fand: "Knöpfe, Tabak, Glump und Zeug." Zugleich baute Weiss seinen eigenen Postkartenverlag auf. Zwei seiner sieben Söhne schlugen später die Fotografenlaufbahn ein. Einer von ihnen, Josef, war Eders Großvater.

Eder, Jahrgang 1964, ist in Tölz aufgewachsen. Er hat viele Erinnerungen an seinen Opa, obwohl er gerade mal neun Jahre alt war, als Josef Weiss starb. "Zu früh", wie er sagt. "Jede Ferien war ich bei ihm im Atelier und im Labor. In der Dunkelkammer hab ich den Knopf am Belichtungsgerät drücken dürfen und die Abzüge entwickeln." Vor seinem inneren Auge ist das alles noch präsent. Außenstehende brauchen schon ein bisschen Fantasie, um sich das modern renovierte "Buidleck" in seiner damaligen Form vorzustellen. Dort, wo einst frisch gekämmte Dörfler auf einem Podest Platz nahmen, um sich vom Fachmann porträtieren zu lassen, befindet sich heute ein digital ausgestatteter Showroom. Eder, selbst ausgebildeter Fotograf, bietet dort sechs Kollegen aus der Region die Möglichkeit, ihre Arbeiten - meist spektakuläre Naturaufnahmen aus dem Oberland - zu präsentieren. Die Zeiten der Konkurrenz seien vorbei, sagt er. Fotografie sei ein aussterbendes Handwerk.

Sein Geld hat er über die Jahre mit einer eigenen Werbeagentur und einem Verlag verdient; 13 eigene Bücher hat er herausgebracht. Mittlerweile kann er es sich leisten, sich ganz auf das zu konzentrieren, was ihm keine Ruhe lässt: die lokale Historie. Neben dem Forschen geht es ihm vor allem um das Bewahren. Das "Dahoitn", wie er es nennt. Dass die Bauern in der Region am Ende des Krieges auf Hitlers Befehl ihre Kachelöfen zerstörten, um sie nicht dem Feind zu überlassen, macht ihn noch immer fassungslos. "Brutal, was in dieser Zeit alles vernichtet und weggeschmissen wurde." Dass ganze Gewerke in den Fünfziger- und Sechzigerjahren verschwanden, beschäftigt ihn, die Veränderungen, die das Walchenseekraftwerk und der Sylvensteinspeicher mit sich brachten - zum Beispiel das Ende der Flößerei. Umgekehrt kann er sich an einem alten Maßkrug ebenso erfreuen wie an einer schönen Schreinerarbeit. Nachbarn, die ihn mit entsprechenden Geschenken beglücken wollen, muss er mittlerweile schon zurückweisen: "Ich bin ja kein Museum." Bei Bildern jedoch kann er nicht Nein sagen.

Beschädigte, verblasste und von Bakterien angefressene Papierabzüge oder Glasplatten sind bei ihm in den besten Händen. "Wenn es so weit ist, dass man gemeinhin ans Wegschmeißen denkt, geht es bei mir erst los." Stunden, bisweilen Tage tüftelt er am Leuchttisch und Computer, um diese fragilen Botschafter vergangener Zeiten am Leben zu erhalten und ihnen ungeahnte Details zu entlocken.

Seine Erkenntnisse behält er nicht für sich. Von kommender Woche an ist seine dritte Ausstellung zu sehen, erstmals im Kloster Benediktbeuern. Sie befasst sich mit dem Handel im Oberland. "Ein schier unerschöpfliches Thema", wie er sagt. Diese Ausstellung sei erst der Anfang. Zwei weitere hat er in Vorbereitung. Und eine Vielzahl von Ideen für weitere Projekte im Kopf. Da schlägt vermutlich der Urgroßvater durch.

© SZ vom 14.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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