Eine Monatskarte für 75 Pfennig:Geschichte auf Schienen

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Das Geretsrieder Industriegleis wird heute von Firmen wie Tyczka oder Pulcra für den Güterverkehr genutzt. Doch auf der Strecke waren nach dem Krieg auch Personenzüge mit Schulkindern unterwegs. Friedrich Schumacher hat die Historie der Trasse erforscht

Von Thekla Krausseneck, Geretsried

Wer morgens von Geretsried nach Wolfratshausen radelt, kann manchmal einen Güterzug beobachten: Gemütlich rollt er über die Schienen, die still und unscheinbar zwischen der Bundesstraße und dem Radweg liegen. Heute sind die Züge mit Gefahrensstoffen für Tyczka Totalgaz oder Pulcra Chemicals beladen. In früheren Zeiten transportierten sie Material für die NS-Rüstungsbetriebe, dann Vertriebene aus Graslitz, später Schüler aus Geretsried, und dazwischen Güter für die steigende Zahl Geretsrieder Betriebe. Etliche Male war das Gleis vom Aus bedroht: Erst durch Reparationsforderungen aus Griechenland und später durch seine Betreiber, die sich regelmäßig über die mangelnde Rentabilität beschwerten.

Heute sind die beiden Geretsrieder Firmen Tyczka und Pulcra die letzten regelmäßigen Nutzer der Trasse, deren Geschichte zunehmend in Vergessenheit geraten ist. Friedrich Schumacher hat nun das Werkgleis zu seinem Projekt gemacht: In Geretsried, Wolfratshausen und München las sich das Mitglied des Arbeitskreises Historisches Geretsried durch die Archive, um sich die bewegte Geschichte der Trasse zusammenzupuzzeln. Seine Erkenntnisse und Fundstücke, zu denen auch Fotos von Sanierungsarbeiten, Demontagegut und alten Fahrkarten gehören, goss Schumacher in einen Vortrag, den sich vor Kurzem gut 200 Besucher in der Mensa des Gymnasiums angehört haben.

Wer sich mit der Geschichte Geretsrieds befasst, der kommt um ein Datum nicht herum: Am 7. April 1946 erreichte der erste Transport der Heimatvertriebenen das Verwaltungsgebäude eines früheren NS-Rüstungsbetriebs, in dem sich heute das Rathaus befindet. Die Gleise, auf denen jener Zug am Barackenlager Buchberg zum Halten kam, waren bereits kurz nach Kriegsende wieder für den Personenverkehr in Betrieb genommen worden. Das genaue Datum kenne er nicht, sagte Schumacher; die erste öffentliche Erklärung der "Montan", die das Gleis betrieb, stamme von Oktober 1947. Doch auch die Vertriebenen hätten nicht im Zug ankommen können, wäre die Brücke über den Isar-Loisach-Kanal zu diesem Zeitpunkt nicht bereits restauriert worden. Die hatten die Nazis bei ihrem Rückzug gesprengt. Mit Hilfe der US-Soldaten wurden zwei 20 Meter lange massive Eisenträger auf die Mauerreste gehievt. Seither ist die Strecke wieder befahrbar.

Das Bild zeigt den Abbau der Werksbahn vor dem Rathaus 1964. (Foto: Stadt Geretsried/oh)

Davon profitierten nicht nur die Kinder und Angestellten unter den Vertriebenen, die mit dem Personenzug in die Schule und in die Arbeit kamen, sondern auch die immer zahlreicheren Betriebe aus dem Sudetenland, die sich in Geretsried ansiedelten. Die Werksbahn blieb jedoch von den Reparationszahlungen nicht verschont: An die Tschechoslowakei musste sie im Juli 1948 eine Dampflok, zwei Dieselloks und zwei Dampfspeicherloks abgeben. Unterdessen hatten die Griechen besonders an der Gleisanlage und an Weichen mit dem stabilen Profil 8 Interesse. Zwischen Wolfratshausen und Geretsried begannen die Abbau- und Flickarbeiten: Weichen mit dem hochwertigen Profil wurden gegen Weichen mit dem schwächeren Profil 6 ausgetauscht - von den 30 Kilometern Schienennetz, die im Krieg genutzt worden waren, blieben rund zehn Kilometer übrig, und auf dieser Strecke entwickelte sich nach Abschluss der Demontage 1948 der Personen- und Güterverkehr. Ersterer hielt nur wenige Jahre; letzterer ist heute noch aktiv.

Bereits 1951 kündigte die Montan an, sie wolle den Personenverkehr auf der Trasse einstellen. Der Grund: zu wenige Fahrgäste, der Betrieb rentierte sich nicht. Zu dieser Zeit pendelten jeden Tag drei Zugpaare zwischen Wolfratshausen und Geretsried-Gartenberg sowie zwischen diesem nördlichen und dem südlicheren Ortsteil, der einfach nur Geretsried hieß. Innerhalb von Geretsried zahlte ein Kind 75 Pfennig für eine Monatskarte. Wollte es nach Wolfratshausen fahren - etwa, um das Gymnasium in Icking zu besuchen -, kostete das im Monat 2,25 Mark, wie deutlich auf vergilbten Fahrkarten von damals zu lesen ist. Vor der angedrohten Stilllegung hatte die Montan noch geflunkert: Der Betrieb sei mit gut 1000 Fahrgästen am Tag so rentabel, dass sogar über eine Verlängerung nach Königsdorf nachgedacht werde. "Zweckoptimismus" nannte Schumacher diese Flunkerei: Die Montan wollte den Betrieb am liebsten an die Bundesbahn abtreten. Als die dann aber doch ablehnte, verkündete Montan das Ende des Personenverkehrs. Die Gemeinde Geretsried konnte zwar eine Gnadenfrist herausschlagen, die aber währte nur zwei Monate. Am 29. März 1952 hieß es zum letzten Mal: Bitte aussteigen.

Weil auch der Güterverkehr immer weiter abnahm - die Geretsrieder Betriebe bezogen ihre Waren immer häufiger über die Straße -, baute die Industrieverwaltungsgesellschaft als Nachfolgerin der Montan in den Jahren 1963 und 64 den Teil der Gleise zurück, der zwischen Gartenberg und Geretsried verkehrte; danach war die Strecke nur noch sechs Kilometer lang. Betriebe, die einen besonders großen Warenumschlag hatten, legten sich eigene Gleisanschlüsse - Tyczka etwa hätte sich gar nicht in Geretsried niedergelassen, wäre ihm dieser Anschluss verwehrt worden. Die Firma Lorenz, auf deren Areal derzeit ein großes Wohngebiet geplant wird - die Firma selbst ist längst Geschichte - baute sich 1972 auf eigene Kosten einen Anschluss. Den gibt es bis heute.

Die Gleise in Geretsried haben eine lange Geschichte: Von ihr erzählt die Monatskarte von 1948 für 75 Pfennig. (Foto: Stadt Geretsried/oh)

Schumacher wandte sich in seinen Vortrag direkt an den anwesenden Geretsrieder Bürgermeister Michael Müller: Die Gleisanlage, so sein Appell, solle "nicht gedankenlos" abgebaut, sondern "an einer geeigneten Stelle im öffentlichen Raum" wieder errichtet werden. Möglich wäre das der Stadt Geretsried, denn die hat die Anlage im Mai 1974 für 15 000 Mark gekauft - einen "Anerkennungspreis", wie es im Vertrag heißt, denn die Erwerbsfläche von rund 4,5 Hektar hatte damit einen illusorischen Quadratmeterpreis von 3,33 Mark.

Seit 2011 lädt die Stadt Geretsried - auf Initiative ihrer damaligen Bürgermeisterin Cornelia Irmer hin - immer mal wieder zu Sonderfahrten ein: Dann hält eine moderne Bayerische Oberlandbahn an jenem verborgenen Bahnhof gegenüber dem Tyczka-Gelände, Geretsrieder steigen ein, und auf geht es entlang der Bundesstraße und dem Radweg in Richtung Wolfratshausen und darüber hinaus, nach Amberg, Waldkraiburg oder Ingolstadt. Die nächste Fahrt findet im kommenden Jahr statt - das Fahrtziel ist noch offen.

© SZ vom 20.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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